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# taz.de -- Am Rande der Gesellschaft dokumentiert: Genauer Blick aufs Extreme
> Roma an einer Müllkippe, die Insassen einer Leprastation, lebenslang
> Inhaftierte: Andrei Schwartz interessieren Menschen, die an besonderen
> Orten leben.
Bild: Im Hochsicherheitstrakt: „Jailbirds - geschlossene Gesellschaft“ von …
Hamburg taz | „Ich mache Filme über Orte, an denen ich mich zu Hause
fühle!“ Zunächst ein erstaunlicher Satz: Der da spricht heißt Andrei
Schwartz und hat schon auf einer Müllkippe gedreht, in einem
Hochsicherheitsgefängnis und in einer Leprastation.
Manches erklärt sein Lebenslauf: Schwartz wurde 1955 in Bukarest als Sohn
jüdischer Künstler geboren. Sein Vater war Bildhauer und zog ins Exil nach
Hamburg. 1973 folgten seine Frau und der Sohn, sodass der spätere
Filmemacher Schwartz seine prägenden Kindheitsjahre in Rumänien erlebt.
Einen Großteil seiner Familie indes hatten während des Holocausts Deutsche
umgebracht. Da ist es für ihn also alles andere als selbstverständlich,
wenn er sich in Hamburg heimisch fühlen kann.
Dort aber studierte Schwartz Geschichte und Kommunikationswissenschaften
und drehte ab 1989 für das deutsche Fernsehen kurze Filmbeiträge im
Rumänien der Umbruchphase. Auf einer Recherchereise entdeckte er dann in
der Stadt Klausenburg am Rande einer Müllkippe eine Roma-Siedlung, die ihn
sofort an eine ähnliche Ansammlung von Baracken in der Nähe seines
Elternhauses erinnerte. Die Bewohner suchten im Müll nach Dingen, die sich
verkaufen ließen, und lebten unter entsprechend extremen Bedingungen.
Insgesamt ein halbes Jahr blieb der Filmemacher bei ihnen. Er wurde während
der Dreharbeiten einerseits von einem Barackenbewohner mit dem Messer
bedroht, andererseits von einem rumänischen Polizisten verprügelt, weil er
es wagte, Roma auf dem örtlichen Marktplatz zu filmen. Das Ergebnis war
1997 Schwartz’ erster Film „Auf der Kippe“. Der Regisseur sagt über die
extremen Entstehungsbedingungen, nach drei Tagen hätten er und sein Team
„den Gestank gar nicht mehr gerochen“.
Dem Zuschauer geht es in gewisser Weise genauso: Schockierend und
mitleiderregend wirken die Armut, der Müll und die Enge nur am Anfang.
Schnell aber ist klar: Schwartz hat kein Interesse daran hat, Elend
auszustellen. Stattdessen zeigt er, wie seine Protagonisten mit
beeindruckendem Einfallsreichtum und viel Lebensfreude gemeinsam essen,
trinken, baden, sich verlieben und im Kino indische Filme ansehen.
Der Film macht deutlich, dass es auch eine Art von Diskriminierung ist,
wenn Menschen, die in Armut leben, einzig auf diesen Aspekt reduziert
werden. Das Leben in „Dallas“, so nennen die Roma ihre Siedlung, ist so
komplex und unbezähmbar wie überall anders auch, bloß noch prekärer.
## Im Lepratal, auf der Krim, im Hochsicherheitstrakt
Von solchem Widerspruch erzählt Schwartz auch 2002 in seinem zweiten Film
„Geschichten aus dem Lepratal“: Hier sind es die Kranken in der letzten
Leprastation Europas im rumänischen Tichilesti. Sie siechen nicht etwa
lustlos dahin, sondern führen ein beinahe idyllisch zu nennendes Leben –
weil der Rest der Welt sie vergessen hat. Da ergänzen sich dann ein
erblindeter Mann und eine Frau, die beide Beine verloren hat, perfekt zu
einem Paar, und Schwartz kommt wiederum den Gezeigten erstaunlich nah mit
seinem genauen, liebevollen Blick.
„Am Pier von Apolonovka“ (2008) scheint aus der Reihe zu fallen, denn darin
porträtiert Schwartz eine Handvoll Menschen, die an der Schwarzmeerküste
sorgenfrei einen Sommer genießen: Hübsche Mädchen sonnen sich in Bikinis.
Die Jungs wollen ihnen imponieren, indem sie gefährliche Sprünge von der
Kaimauer wagen, daneben baden alte Leute. Und dennoch ist dies wohl der
traurigste Film von Schwartz, denn er hat ihn in Sewastopol auf der Krim
gedreht, die inzwischen von Russland besetzt wurde. Und so sieht man das
sommerliche Treiben heute mit ganz anderen Augen. Zu sehen ist hier eine
für immer verschwundene Welt, in der an dieser Pier noch Frieden herrschte.
Schwartz gehört zu den wenigen „ehrlichen“ Dokumentarfilmern, die auch die
Unschärfen ihrer Kunst thematisieren, indem sie zeigen, dass ihre
Protagonisten immer auch vor einer Kamera als Darsteller ihrer selber
agieren. So endet etwa „Auf der Kippe“ mit einer Sequenz, in der gezeigt
wird, wie die Roma in der Siedlung von der Filmproduktion dafür bezahlt
werden, dass sie in dem vorangegangenen Film aufgetreten sind.
Am Sonntag zeigt das Hamburger Metropolis-Kino erstmals zwei seiner Filme
direkt nacheinander, die auch zusammengehören: „Jailbirds – Geschlossene
Gesellschaft“ entstand 2005 im Hochsicherheitsgefängnis Radova am Rand von
Bukarest. Darin sieht man Männer, die jahrzehntelang hinter Gittern leben,
und Frauen, die sich zu zwanzigst eine Zelle teilen – und die acht Betten
darin. Beide wiederum aber nicht als bemitleidenswerte Kreaturen, sondern
als Menschen, die dem Leben soviel Bedeutung und sogar Freude abtrotzen,
wie es halt möglich ist.
Einer der Protagonisten war damals Gabriel, wegen eines Doppelmordes zu
lebenslanger Haft verurteilt. Mit ihm, den die anderen als „lausigen Juden“
beschimpften, konnte sich Schwartz am meisten identifizieren. Er begleitete
ihn über die Jahre immer weiter.
Als dieser Gabriel nach über 20 Jahren aus dem Gefängnis kam, dokumentierte
Schwartz auch seinen weiteren Lebensweg: „Himmelverbot“ wurde im
vergangenen Jahr fertiggestellt. Darin wird – noch ein erstes Mal – auch
Andrei Schwartz zum Protagonisten seines eigenen Films, wenn er von seiner
Freundschaft zu Gabriel erzählt; aber auch, indem er dessen Gerichtsakte
liest, seine große Lebenslüge aufdeckt.
Aber so richtig viel ändert sich auch durch diesen Wechsel der Perspektive
nicht, denn: „Im Grunde“, sagt Andrej Schwartz ja ganz richtig, „macht man
immer Filme über sich selbst!“
10 Dec 2015
## AUTOREN
Wilfried Hippen
## TAGS
Dokumentarfilm
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Holocaust
Kino
Rumänien
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Syrien Bürgerkrieg
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Kommunismus
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