# taz.de -- Dokumentarfilm „Die Hälfte der Stadt“: Vergangenheit als Anima… | |
> Pawel Siczeks erzählt am Schicksal des Fotografen Chaim Berman von der | |
> Deportation der jüdischen Bevölkerung aus Polen. | |
Bild: Chaim schaut sich ein Foto an. | |
Was erzählen Bilder über den, der sie gemacht hat? Pawel Siczeks erste | |
Annäherung an den Dorffotografen Chaim Berman in seinem Film „Die Hälfte | |
der Stadt“ ist das Fotoalbum eines alten Ehepaars aus dem mittelpolnischen | |
Kozienice. Die beiden freuen sich noch heute an der Eleganz der Bilder und | |
den Erinnerungen, die sie auslösen. | |
Während sie auf die Bilder schaut, beginnt ein Lächeln den etwas grimmigen | |
Gesichtsausdruck der älteren Dame zu umspielen. „Er war ein hübscher | |
Junge“, platzt die Erinnerung an den Fotografen der Bilder schließlich aus | |
ihr heraus. Siczeks Film entfaltet, ausgehend von der Geschichte Bermans, | |
die tragische Geschichte vom Ende des Zusammenlebens, des deutschen | |
Besatzungsterrors und der Deportation der jüdischen Bevölkerung aus Polen. | |
Eine der größten Stärken des Films ist, die Balance zwischen individuellem | |
Schicksal und großer Geschichte zu halten. | |
Durch Momente wie das Schwelgen über dem Fotoalbum vermeidet Siczek eine | |
starre Gegenüberstellung von jüdischen und christlichen Polen. Vielmehr | |
beschwört er die unwiederbringlich verlorene geteilte Vergangenheit des | |
deutsch-russisch-jüdisch-polnischen Lebens vor dem Zweiten Weltkrieg. | |
Siczek spürt das angeblich Fremde, andere in der eigenen, der | |
christlich-polnischen Vergangenheit auf, macht die Begegnung der Welten | |
erlebbar. | |
Um diese Begegnung der Welten und die Durchdringung von Vergangenheit und | |
Gegenwart sichtbar zu machen, lässt Siczek animierte Elemente in die | |
Filmbilder einsickern. Eine Ziege, die zwischen Nachkriegswohnbauten grast, | |
ein Huhn, das über die Straße läuft, nimmt die Überblendung in die | |
Vergangenheit vorweg. | |
## Lieblich-nostalgische bis gespenstische Bilder | |
„Die Hälfte der Stadt“ lässt die Vergangenheit in Animationssequenzen | |
aufblitzen. In gedämpft leuchtenden Farben mit klaren Linien werden Szenen | |
aus Bermans Leben und das jüdische Leben im Vorkriegspolen sichtbar, erst | |
ein wenig lieblich-nostalgisch und später – in den Bildern der Vernichtung | |
– zunehmend gespenstisch. Gerade die animierten Bilder machen die | |
Gegenwärtigkeit der Vergangenheit, die Utopie, die in ihr enthalten war, | |
und die Unwiederbringlichkeit schmerzhaft deutlich. Chaim Berman wurde | |
zunächst von Nachbarn versteckt und schließlich doch von den Deutschen | |
ermordet. | |
Der Film driftet zwischen den Zeiten vor und zurück und findet | |
eindrucksvolle Bilder dafür, wie fragil die Erinnerung an das jüdische | |
Leben in Polen vor dem Zweiten Weltkrieg ist: Wieder und wieder tastet die | |
Kamera die Glasnegative der Fotos von Berman ab, sichert die Sprünge, | |
Kratzer und die Spuren der chemischen Zersetzungsprozesse, entlockt dem | |
Trägermaterial eine ganz eigene Form der Zeitzeugenschaft. Etwa 10.000 | |
Porträts von Berman überlebten im Keller unter seiner ehemaligen Wohnung. | |
Mit dem Film „Die Hälfte der Stadt“ verneigt sich Pawel Siczek vor Chaim | |
Berman und dessen Glauben an die Möglichkeit von Zusammenleben. Auch wenn | |
der Film über weite Strecken einem Requiem ähnelt, so gelingt es Siczek | |
doch, mit hoffnungsvoller Melancholie zu enden. „Die Hälfte der Stadt“ – | |
ein optimistisches Requiem? | |
5 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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