# taz.de -- Reintegrationsprogramm in Rumänien: Kinder des Untergrunds | |
> Ein Zirkus versucht seit 20 Jahren, Straßenkindern eine Perspektive zu | |
> bieten. Eine Geschichte von Rückschlägen. Und Erfolgen. | |
Bild: Einige vom Zirkus leben nicht bloß auf der Straße, sondern schlafen in … | |
BUKAREST taz | Nichts lässt in der grauen U-Bahn-Station mitten in Bukarest | |
erwarten, dass hier gleich Akrobaten und Jongleure auftreten werden. Doch | |
genau hier bereiten sie sich vor, auf eine Show von Parada Romania. Das ist | |
eine NGO mit dem Ziel, die Straßenkinder Rumäniens wieder in die | |
Gesellschaft zu integrieren. | |
Ein wenig abseits der Gruppe der Artisten streunen der Junge Antonio und | |
der Mann Liviu herum. Antonio, so um die zwölf Jahre alt, ist erst seit | |
kurzem beim Zirkus. Für die Aufführungen muss er noch sicherer mit den | |
Bällen werden. Liviu ist schon erwachsen. Beide leben auf der Straße und | |
schlafen in der Kanalisation, neben den Heizungsrohren. Oberhalb von | |
Bukarest deuten nur die dicken, weißen Dämpfe, die aus manchen Gullis | |
steigen, auf die unterirdische Stadt hin – das Zuhause von über 1.500 | |
Straßenkindern. Mit den Auftritten von Parada Romana werden sie sichtbar. | |
Der Zirkus will die Kinder vor dem Vergessen bewahren. | |
Noch bereiten sich die Akteure auf ihren Auftritt vor. Flori, die Trainerin | |
der Kids, spricht noch einmal die Choreografie mit ihren Schützlingen | |
durch. Dann, mit dem Ertönen der Musik, wird es ernst. Zwei Mädchen, | |
Zwillinge, kommen auf die improvisierte Bühne. In ihren glitzernden rosa | |
Kostümen wirken die Kinder ganz wie professionelle Artisten. Mit Parada | |
sind sich schon nach Italien oder Frankreich gereist. Die internationalen | |
Shows sollen auf die Tatenlosigkeit der rumänischen Politik hinweisen. | |
Seit fast 20 Jahren arbeitet Parada Romania schon mit Straßenkindern | |
zusammen. Ursprünglich begann alles mit dem französischen Clown Miloud | |
Oukili. Nach der großen Revolution erfuhr er durch die Nachrichten, wie die | |
rumänischen Waisenhäuser eine Flut von verstoßenen Kindern auf die Straße | |
entließen. Eine Generation im Elend, die der verhasste Diktator Ceaușescu | |
durch das Verbot von Verhütung und Abtreibung geschaffen hatte. | |
## Der Applaus lässt die Angst vergessen | |
Miloud Oukili, der von dem innigen Wunsch getrieben war, den Kindern zu | |
helfen, setzte sich spontan mit einer roten Nase und ein paar Bällen in das | |
nächste Flugzeug. In Bukarest merkte er schnell, dass die Kinder mit seinen | |
Jonglagekünsten zu begeistern waren. Durch den Zirkus eröffnete sich den | |
Straßenkindern plötzlich eine neue Welt, in der sie nicht mehr wie | |
Aussätzige behandelt wurden. Die Kids hatten eine neue Droge gefunden. | |
Statt den Klebstoff „Aurolac“ zu schnüffeln und damit Hunger und Kälte | |
kurzfristig fernzuhalten, war es nun der Applaus, der sie Angst, Gewalt und | |
sexuellen Missbrauch vergessen ließ. | |
Das ist auch jetzt wieder zu sehen. Mit dem Klatschen der Zuschauer heben | |
sich die Mundwinkel der Zwillinge. Anfangs noch ernst, wird aus dem Lächeln | |
ein Strahlen, als sie sich verbeugen. | |
Über 700 Straßenkinder hat Parada Romania inzwischen wieder reintegriert. | |
„Der Zirkus dient dazu, das Vertrauen der Kinder zu gewinnen“, erklärt | |
Franco Aloisio, der für die Organisation der Aufführungen von Parada | |
zuständig ist: „Das ist die Grundlage, auf der wir aufbauen können. Je | |
besser wir das Kind dann kennenlernen, desto mehr verlangen wir von ihm. | |
Zum Beispiel die Kontaktaufnahme mit der Familie oder die regelmäßige | |
Teilnahme am Schulunterricht. Manche Kinder haben sogar studiert, andere | |
dagegen arbeiten nur gelegentlich.“ | |
Marius gehört zu letzteren. Mit 14 Jahren kam er zum Zirkus und ist immer | |
noch hier. Der Mann mit zerzausten Haaren und dem schüchternen Lächeln, das | |
seine Zahnlücken entblößt, ist psychisch labil. Stabilität in seinem Leben | |
findet er nur im Zirkus, deshalb kommt er immer wieder zu Parada zurück. | |
„Wir können die Kinder nicht zwingen, die Straße zu verlassen“, sagt | |
Aloisio. „Der Zirkus übt zwar mit seinen Farben und Kunststücken eine | |
gewisse Anziehungskraft auf die Jugendlichen aus, aber auch die Straße hat | |
ihren Reiz.“ | |
## „So funktioniert die Straße“ | |
Im Zirkus gibt es Regeln: keine Drogen, keine Gewalt, gegenseitiger | |
Respekt. Auf der Straße dagegen sind die Kinder unabhängig. Im Zirkus gibt | |
es Autoritäten, auf die sie hören müssen – und das ist gerade das, wovor | |
viele weggelaufen sind. | |
„Schwierig ist es auch deshalb, weil wir eine Tageseinrichtung sind“, | |
erklärt Aloisio: „Somit besteht natürlich immer das Risiko, dass der | |
Fortschritt, den wir tagsüber erzielen, nachts, wenn die Kinder in die | |
Kanalisation gehen, wieder verloren geht.“ Für die Zukunft hat Parada neue | |
Unterkünfte geplant und dafür bereits ein Grundstück außerhalb von Bukarest | |
gekauft. Noch vor dem nächsten Winter sollen dort 28 Kinder untergebracht | |
werden. Denn je länger die Kinder sich auf der Straße durchschlagen müssen, | |
desto schwerer wird es für sie, sich ein anderes Leben vorzustellen. | |
Der Erfolg der Reintegration ist deutlichhöher, wenn die Kinder erst seit | |
Kurzem obdachlos sind, denn dann hatten sie meist noch keinen Kontakt zu | |
Drogen und sind noch nicht HIV-infiziert. Ein Versuch, den Kindern Kondome | |
zur Verhütung mitzugeben, scheiterte. Bereits am nächsten Tag verkauften | |
sie diese auf dem Markt. „So funktioniert die Straße“, seufzt Aloisio. | |
Neben Problemen wie Krankheiten muss Parada auch täglich mit dem Fehlen von | |
Ausweispapieren oder dem Stehlen der Kinder zurechtkommen. „Jeden Tag gibt | |
es neue Schwierigkeiten“, erzählt Alosio: „Wer bei Parada ist, muss | |
verrückt sein. Alle hier sind ein bisschen irre. Die Kinder, das Personal, | |
einfach alle.“ | |
Es gibt Situationen, in denen die Kinder durchdrehen, in denen ihre | |
Erfahrungen mit Gewalt an die Oberfläche drängen und nicht mehr | |
kontrollierbar sind. Das ist der Moment, in dem auch ein unbeteiligter | |
Passant einen Blick hinter die Maske der Straßenkindern erhascht. Denn so | |
wie im Zirkus die Schminke die Narben kaschiert, verdeckt das Lachen der | |
Kinder ihre oft schrecklichen Erfahrungen. | |
Vor dem Gebäude des Zirkus stehen ein paar Kids – Freunde, die zusammen | |
Spaß haben und sich gegenseitig necken. Antonio möchte, dass sein älterer | |
Kumpan stillhält. Er will ihm die Bartstoppeln am Kinn kraulen. Der Junge | |
lässt es geschehen. Sie sind eine Familie, denn wem sonst sollen sie | |
vertrauen, wenn nicht denjenigen, die ihr Schicksal teilen? | |
16 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Sarah Bioly | |
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