# taz.de -- Russlands Intervention in Syrien: Die Angst vor dem IS | |
> Moskaus Luftschläge könnten den Terror im Kaukasus wieder anheizen. Dort | |
> sind es wirtschaftliche Probleme, die die Jugend radikalisieren. | |
Bild: Die Ruhe könnte trügerisch sein: Tschetscheniens Präsident Ramsan Kady… | |
Moskau taz | Türkische Jagdflieger haben am Wochenende einen russischen | |
Kampfjet abgedrängt, der in der Region von Hatay in den türkischen Luftraum | |
vorgedrungen war. Der Vorfall soll sich bereits am Samstag ereignet haben, | |
teilte das Außenministerium in Ankara mit. Russlands Botschafter sei | |
einbestellt worden, um ihm den „scharfen Protest“ der türkischen Regierung | |
zu übermitteln. Deren Außenbeauftragter, Hadi Sinirlioglu, habe seinen | |
russischen Amtskollegen Sergej Lawrow auch bereits telefonisch vor einer | |
Wiederholung ähnlicher Vorfälle gewarnt. | |
Präsident Recep Erdogan sprach von einem „schweren Fehler“, den Moskau mit | |
den Luftschlägen begehe und warnte Russland vor der Gefahr einer | |
„Vereinsamung in der Region“. Aus dem Kreml verlautete zunächst lapidar, | |
man werde den Vorwurf der Luftraumverletzung prüfen. Schon am Nachmittag | |
jedoch war die russische Botschaft überraschend geständig. | |
Laut Angaben der russischen Nachrichtenagentur RIA seien auch mehrere | |
tausend Kämpfer des IS, der Al-Nusra-Front und anderer Gruppen vor den | |
russischen Luftangriffen nach Jordanien geflohen. Russland unterscheidet | |
nicht zwischen dem IS und anderen Gruppierungen, die ebenfalls Syriens | |
Präsidenten Baschar–al Assad bekämpfen. Dass diese Formationen nicht dem IS | |
angehören oder ihn sogar bekämpfen, verschweigt Moskau. Darunter sind auch | |
solche, die in Tschetschenien im Kampf mit der russischen Armee Erfahrung | |
gesammelt haben. | |
Offiziell nimmt Russlands Luftwaffe in Syrien Stützpunkte des Islamischen | |
Staates (IS) ins Visier. Tatsächlich galten die ersten Schläge aber | |
Stellungen der gemäßigten Opposition gegen Baschar al-Assad. | |
## Sicherheit gefährdet | |
Russland sehe seine Sicherheit gefährdet, sagte der Präsidialamts-Chef | |
Sergei Iwanow zur Begründung der Intervention. Rückkehrer aus den Reihen | |
des IS könnten den Terror zu Hause wieder anheizen. | |
Seit den Olympischen Spielen 2014 in Sotschi ist es in Russland ruhiger | |
geworden. Nach Schätzungen des Onlineportals „Kawkaski Usel“ (Kaukasischer | |
Knoten) wurden bei Terroranschlägen 2013 noch 1149 Personen getötet oder | |
verletzt. 2014 sank die Opferzahl auf 525. In diesem Jahr dürften es noch | |
weniger werden. Seit dem Bürgerkrieg in Syrien nahmen die Aktivitäten des | |
kaukasischen Untergrunds merklich ab. Das bestätigen Sicherheitskräfte | |
ebenso wie Menschenrechtler. | |
Für den Rückgang gibt es viele Gründe: Vor den Olympischen Spielen ging der | |
Kreml mit äußerster Härte gegen Islamisten vor und zerstörte lebenswichtige | |
Strukturen des Kaukasischen Emirats (KE). Das Terrornetzwerk war seit 2007 | |
für die meisten Anschläge in Russland verantwortlich. Auch dessen | |
selbsternannter Emir, der Tschetschene Doku Umarow, wurde vom russischen | |
Geheimdienst getötet. Seither ist das KE geschwächt. Nicht nur eine | |
anerkannte Führungsfigur fehlt, auch das Geld wurde knapp. | |
Noch wichtiger indes: die Jugend folgt anderen Vorbildern. Der Kampf des KE | |
gegen das ungläubige Russland reizt sie weniger als die globale Mission der | |
Terrormiliz IS. Mit dem Krieg in Syrien haben sich viele auf den Weg in den | |
Nahen Osten aufgemacht. Emir Umarow hatte schon zu Lebzeiten gewarnt, die | |
erfolgreiche Anwerbung durch den IS könne zu einem Nachwuchsproblem für den | |
Heiligen Krieg im Kaukasus führen. | |
## Korruption und Rechtlosigkeit | |
Der Terror hat sich unterdessen nur nach Syrien verlagert. Seine sozialen | |
und gesellschaftlichen Ursachen wurden im Nordkaukasus nicht beseitigt. | |
Korruption, Rechtlosigkeit und mangelnde Aufstiegschancen bestimmen | |
weiterhin den Alltag und radikalisieren die Jugend. Nur wächst inzwischen | |
der Zuspruch zum IS. Die Behörden sind nicht der Illusion erlegen, dass sie | |
den Terror zu Hause bezwungen haben. Im Gegenteil. | |
Wer nach Syrien ausreisen möchte, kann auf wohlwollende Unterstützung | |
russischer Geheimdienste bauen. „Die russischen Sonderdienste kontrollieren | |
den Prozess vom ersten Moment an. Sie stören auch nicht, sondern sind beim | |
Absetzen noch behilflich“, schrieb die oppositionelle Nowaja Gaseta Ende | |
Juli. | |
22 Einwohner eines Dorfes in Dagestan, rund 1 Prozent der Bevölkerung, | |
hatten sich auf den Weg in den Nahen Osten gemacht. Wer weder Reisepass | |
noch Geld besaß, dem wurde staatliche Hilfe zuteil. Das Kalkül schien zu | |
sein: Sie gehen, um zu sterben. Unterdessen kehrten 17 Gotteskrieger | |
enttäuscht zurück, die anderen sind gefallen. Den Heimkehrern wird jetzt | |
der Prozess gemacht. | |
Auch der desolate Zustand des KE verleiht dem IS Auftrieb. Viele | |
Kommandanten wechselten seit letztem Jahr die Seite und schworen dem IS | |
Gefolgschaft. Erst im Juni gab die Terrorgruppe auch die Gründung einer | |
eigenen „IS-Kaukasus-Provinz“ bekannt. Sie hält die Rebellen aus dem | |
Nordkaukasus für eine schlagkräftige Truppe, nicht jeder Treueschwur einer | |
Terrorzelle wird vom IS auch angenommen. | |
Den Rebellen eilt der Ruf voraus, hervorragende Kämpfer zu sein, die auf | |
dem Schlachtfeld sehr begehrt sind. Die meisten stammen aus Tschetschenien | |
und der Nachbarrepublik Dagestan. Einer der IS-Führer ist Omar Schischani, | |
ein Tschetschene aus dem Pankisi-Tal in Georgien. Beobachter vermuten, die | |
Kampferfahrungen seien auch der Grund, warum der IS das Augenmerk verstärkt | |
nach Russland richte. | |
## Geheimdienst geht von 5.000 Kämpfern aus | |
Deshalb ist Russisch nach Englisch auch zur zweit wichtigsten Sprache | |
aufgerückt, in der im Internet für Nachwuchs geworben wird. Die jungen | |
Kräfte des IS stammen jedoch nicht nur aus dem muslimischen Nordkaukasus. | |
Auch Studentinnen aus besten Kreisen sind den Werbern schon verfallen und | |
sorgten im sommerlichen Moskau für Aufregung. Im August wurde daraufhin | |
eine psychologische Hotline eingerichtet. Eltern erhielten den Rat, ihre | |
Sprösslinge aufmerksamer zu beobachten und Verhaltensauffälligkeiten an | |
Hand einer Checkliste zu überprüfen. | |
Verlässliche Zahlen, wie viele russische Bürger aufseiten des IS kämpfen, | |
gibt es nicht. Angaben variieren je nach politischer Großwetterlage, Quelle | |
und Adressat. Der Präsidialamts-Chef Sergej Iwanow spricht von 2.000 | |
Kämpfern, Kollegen vom Geheimdienst gingen unterdessen schon von 5.000 aus. | |
Im August fühlten sich nur 13 Prozent der Bevölkerung vom IS bedroht. Nach | |
der Intervention in Syrien könnte sich das ändern. Der Kaukasus-Experte | |
Alexei Malaschenko vermutet, der IS werde mit Gegenmaßnahmen in Russland | |
nicht lange auf sich warten lassen. Zu befürchten ist, dass die Gefahr für | |
Russland wächst, je erfolgreicher der Kampf gegen die Terrormiliz im Nahen | |
Osten geführt wird. | |
6 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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