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# taz.de -- Erntehelfer in Apulien: Die Sklaven der Tomaten
> Viele Migranten schuften im Sommer auf den Obst- und Gemüseplantagen in
> Süditalien. Ihr Stundenlohn beträgt oft nur 2,50 Euro.
Bild: Unterwegs zwischen den Feldern: Bis zu 250.000 Menschen schuften als Ernt…
Rignano/ Foggia taz | Blut läuft die Hand von Aboubacar herunter, und der
junge Nigerianer stößt wüste Beschimpfungen aus, die der Besitzerin der Bar
gelten. Rose hat ihm so kräftig in den Zeigefinger gebissen, dass ein Stück
der Spitze fehlt. Es braucht drei Leute und eine Stunde, um Aboubacar zu
beruhigen. Rose, die auch das anliegende Bordell betreibt, stammt wie er
aus Nigeria. Sie ist eine sehr dunkelhäutige Frau von Mitte dreißig, die
selten lächelt und sich von niemandem einschüchtern lässt. Nicht von ihrem
Ehemann, der sie und den sie öfter mal ohrfeigt, und noch viel weniger von
ihren Kunden.
Heute Abend ist Rose auf Aboubacar losgegangen, weil sie wollte, dass er
die Rechnung seiner beiden Freunde begleicht: 5 Euro. Er war dummerweise
angetrunken sitzen geblieben, während sich die zwei verdrückt hatten. Im
Ghetto von Rignano, einem Slum etwa zwölf Kilometer südlich von Foggia,
sind solche Gewaltszenen alltäglich. Jeder hier weiß, dass es zwei Stunden
harte Arbeit ist, 600 Kilogramm Tomaten zu ernten und die kostbaren 5 Euro
zu verdienen.
Etwa 1.500 Menschen leben in Rignano während der Erntezeit, die von Juni
bis September geht. 50 Prozent aller italienischen Tomaten wachsen hier in
der nördlichsten Provinz der Region Apulien. Kleine Ortschaften und riesige
Anbauflächen prägen die leicht hügelige Landschaft: Oliven, Spargel,
Artischocken, Brokkoli, Erdbeeren, Zitronen gedeihen hier.
## Die profitabelste Saison
Die meisten Bewohner von Rignano stammen aus Mali, gefolgt von Kamerun,
Ghana, Senegal. Sie verdingen sich auf den Obst- und Gemüseplantagen für
absolute Niedriglöhne; neuerdings kommen auch immer mehr Afrikaner aus
anderen Landesteilen Italiens nach Rignano, weil sie einfach ein paar Tage
im „Afrika Apuliens“ verbringen wollen.
Im Ghetto gibt es Läden, kleine Restaurants, eine Moschee und eine
Radiostation. In manchen Häusern sind in einem Raum mehr als 40 Menschen
untergebracht, Matratze an Matratze. Ein paar Duschen stehen im Ghetto zur
Verfügung, die Felder werden als Toilette genutzt. Fast jeden Morgen kommt
ein Laster der Regionalverwaltung und füllt einige Wassertanks.
Regionalpräsident Michele Emiliano hat versprochen, diesen afrikanischen
„Schandfleck“ bis Ende Oktober zu beseitigen, doch das nimmt ihm hier
niemand ab. Die Tomatenernte ist eine der profitabelsten Jahreszeiten für
die Region.
„Dieses Jahr Arbeit zu finden ist sehr schwer, wallahi, ich schwör’s“, s…
Abdullah, 28, der ursprünglich aus Conakry in Guinea stammt und seit fünf
Jahren legal in Italien lebt. „Immer mehr Leute wollen hier arbeiten, und
es hat keinmal geregnet!“ Der Regen bestimmt ganz wesentlich die Ernte. Hat
es geregnet, kann der Farmer seine Maschinen wegen des matschigen Bodens
nicht voll einsetzen und muss mehr Arbeiter anheuern. In trockenen Sommern
erledigen 5 Arbeiter und eine Maschine den gleichen Job wie andernfalls 30
Arbeiter ohne mechanische Hilfe. Der Sommer 2015 war extrem heiß. So heiß,
dass in weniger als einem Monat sechs Arbeiter gestorben sind: drei
Afrikaner, ein Rumäne und zwei Italiener.
Nicht alle sind für diese Art Arbeit geschaffen. Egal von welcher Statur,
solche Strapazen steht nur durch, wer an ein Leben auf den Feldern unter
der afrikanischen Sonne gewohnt ist, wie schon seine Eltern und Großeltern.
Manche halten nur einen Tag bei der Ernte durch, andere eine Woche. Wer
eine ganze Saison schafft, der hat das zweifelsohne sein ganzes Leben
gemacht. Der beste Arbeiter scheint ein Ghanaer, den alle „38 cassoni“
rufen, weil er an einem Tag 38 Kisten, je 300 Kilogramm schwer, mit Tomaten
bestückt. Das ist Rekord; die anderen Afrikaner schaffen in der Regel 10
Kisten.
Charles ist Vorarbeiter und einer der Bosse im Ghetto. Seit acht Jahren
lebt der Ghanaer in Italien, er hält den Kontakt zum Eigentümer der
Tomatenfelder bei Lucera, östlich von Foggia. Charles besitzt nicht nur
eine Bar und ein paar Baracken in Rignano, sondern auch ein Haus zwischen
den Feldern, in dem er 20 Arbeiter schlafen lässt. „Willst du auf dem Feld
arbeiten?“, fragt er Karim, einen jungen Gambier, der gerade in seine Bar
kommt. „Kommt nicht in Frage“, sagt Charles dann, ohne die Antwort
abzuwarten. „Ich gebe dir einen einfacheren Job, bei den Maschinen.“ Auch
wenn er die 30 Euro genommen hat, die ihm der junge Mann zugesteckt hat –
soviel kostet die Matratze für eine Saison –, weigert sich Charles zu
glauben, dass Karim eine gute Investition ist.
„Im Ghetto gibt es viele Vorarbeiter, carporali oder capineri“, erklärt
Concetta Notarangelo von der Hilfsorganisation Caritas in Foggia,
„Afrikaner, die gut Italienisch sprechen und den Transport der Arbeiter
zwischen dem Ghetto und den Feldern organisieren“. Inzwischen gebe es auch,
sagt Notarangelo, immer mehr Italiener, die ihre Arbeiter direkt aus dem
Ghetto holen und aufs Feld bringen. „Die illegale Beschäftigung nimmt zu.“
## Konkurrenz auf allen Ebenen
Auch die Farmer sind einem harten Wettbewerb ausgesetzt, weil sie auf den
Großmärkten oft nur niedrige Preise erzielen. 24.000 landwirtschaftliche
Betriebe gibt es in Apulien. „Natürlich ist es nicht korrekt, einem
Arbeiter nur 2,50 Euro pro Stunde zu zahlen“, sagt ein Händler, der anonym
bleiben will. „Aber es ist ebenso unanständig, dass die Multis unsere
Preise unterbieten und uns in den Ruin treiben.“ Die Produktionskette oder
filiera, die auf den Feldern beginnt und das Produkt bis in die
Supermarktregale bringt, ist gnadenlos profitorientiert. Aus diesem Grund
verspricht jemand wie Charles seinem neuen Arbeiter nicht mehr als 3 Euro
für 300 Kilo; das sind immerhin 50 Cent mehr, als mancher Senegalese oder
Malier im Ghetto seinen Landsleuten anbietet.
Bereits um halb vier am frühen Morgen sind die Lastwagen voll mit
arbeitswilligen Männern. Draußen warten noch Hunderte darauf, Kanister und
Sandwich in der Hand, aufgerufen zu werden. Vier Stunden lang werden die
Laster einer nach dem anderen aufbrechen. Der afrikanische Teamchef,
manchmal in Begleitung eines Italieners, ruft die Arbeiter einzeln auf. Im
Schein einer Taschenlampe gleicht er die Liste mit den Namen der Arbeiter
mit den Ausweispapieren ab, die sich in einer Plastiktasche befinden. Nicht
jeder hat eine Aufenthaltsgenehmigung, weshalb die Arbeiter oft ihre
Papiere untereinander tauschen.
Die Arbeit geht von 4 Uhr morgens bis 12 am Mittag und dann nochmal von 14
bis 18 Uhr. Aber viele gönnen sich keine Pause. Tomaten sind eine
empfindliche Ware. Wegen der Hitze ist die Ernte schlecht ausgefallen
diesen Sommer – bis zu 60 Prozent weniger Tomaten als im Vorjahr, schätzen
lokale Zeitungen. Auch deswegen werden weniger Arbeiter gebraucht. Rund
250.000 Menschen schuften als Erntehelfer in Apulien; etwa 60.000 bis
80.000 davon illegal. Die genauen Zahlen sind schwer zu ermitteln.
Jeden Morgen um 7 Uhr lässt Sidibé sein Auto an. Obwohl erst 22, hat der
Malier schon die Durchquerung der Sahara, den Ausbruch des Bürgerkriegs in
Libyen und die letzten vier Jahre in Italien überlebt. Er besitzt eine
Aufenthaltsgenehmigung, aber keinen Führerschein. 10 Euro kostet die Fahrt
bei ihm von Rignano nach Foggia. Sidibé fährt die Männer, die für die
Feldarbeit nicht akzeptiert wurden. Sie wollen nach Foggia, um dort
Autofenster zu waschen oder in den Straßen zu betteln.
## Zu viele Tote
Diesen Sommer haben die Zeitungen mehr als sonst über die Verhältnisse in
Rignano berichtet. Zu viele Tote. Im südapulischen Nardò fand Anfang August
eine Mahnwache für Mohamed Abdullah statt. 47 Jahre alt, verheiratet, zwei
Kinder. Er ist am 20. Juli in der Mittagshitze auf dem Feld zwischen den
Tomatenpflanzen kollabiert – Herzinfarkt. Der Sudanese war erst am Tag
zuvor aus Sizilien eingetroffen. Einer von vielen ohne Papiere, ohne
Vertrag. Kerzen formen seinen Namen vor der Kirche San Trifono auf der
Piazza Salandra. Rund hundert Teilnehmer sind erschienen, darunter
Mitarbeiter der Caritas, der Gewerkschaft FLAI-CGIL und der
Anti-Mafia-Organisation Libera, die sich seit Jahren gegen diese Form der
modernen Sklaverei engagieren.
Sie kämpfen auf ziemlich verlorenem Posten gegen ein rücksichtsloses und
weit verzweigtes System illegaler Beschäftigung. Es basiert auf einer nicht
genau zu ermittelnden Zahl von Landwirten; Profitdenken bei Gärtnereien und
landwirtschaftlichen Betrieben, bei Vermarktungsgemeinschaften und
Verbänden; und es beruht auf dem enormen Druck, dem diese wiederum durch
die miteinander konkurrierenden internationalen Konzerne ausgesetzt sind,
die Transport, Weiterverarbeitung und Vertrieb regeln. Eine Pyramide, in
die auf verschiedenen Ebenen, mehr oder weniger organisiert, mafiöse
Gruppen eindringen. „Wer mit dem Leben der Menschen spekuliert, ist ein
Mafioso“, sagt ein Teilnehmer der Mahnwache in Nardò. „Die Mafia benutzt
die Männer und Frauen, als wären sie Lasttiere. Sie setzt sich ungeniert
über alle Gesetze hinweg.“
Die Tomatenernte ist vorbei, die – kleinere – Weinlese in Foggia hat
begonnen. Ein Teil der Arbeiter wird über den Winter nach Norditalien
gehen. Wer es sich leisten kann, reist zu seiner Familie nach Afrika.
Mamadou Sare, 37, aus Burkina Faso wird nicht dabei sein. Er hat am 22.
September versucht, auf einer Plantage mit zwei Kumpeln Melonen zu klauen.
Der wütende Besitzer feuerte mehrere Gewehrschüsse auf die Gruppe ab. Zwei
Kugeln trafen Sare tödlich.
Aus dem Englischen von Sabine Seifert
18 Oct 2015
## AUTOREN
Matteo Koffi Fraschini
## TAGS
Migration
Erntehelfer
Mafia
Landwirtschaft
Brasilien
EU
Saisonarbeitskräfte
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