| # taz.de -- Fotoausstellung in Hamburg: Ich und Ai Weiwei | |
| > Beweisfotos teilen ist kein neuer Trend: Hamburger Ausstellung führt | |
| > durch die Wirkungsgeschichte der Fotografie, von Postkarten bis | |
| > Instagram. | |
| Bild: Nicht erst mit dem Smartphone erfunden: Trend zum Beweisfoto | |
| Hamburg taz | Alles klar, viele Fotos werden gleich zu sehen sein. Denn um | |
| was es geht, ist schließlich unmissverständlich im Ausstellungstitel der | |
| aktuellen Schau in Hamburgs Museum für Kunst und Gewerbe enthalten: | |
| [1][“When we share more than ever“.] | |
| Das Foto selbst als ein Massenmedium, trägerlos gewissermaßen, das zugleich | |
| jeder von uns in die Welt schicken kann, aus dem Moment heraus, per | |
| Twitter, per Facebook, per Instagram oder Flickr oder was auch immer: Nie | |
| zuvor ist die Welt dank unseres Mittuns so sehr abfotografiert und zugleich | |
| so bilderüberflutet worden wie heute: Ja, diese Beschreibung leuchtet ein. | |
| Aber dann bleibe ich am Eingangsbereich der Schau an einem Bild hängen, an | |
| einem einzelnen Bild, einer simplen Postkarte. Einer von damals. | |
| Sepia-bräunlich getönt steht sie aufgestellt hinter Glas. Sie zeigt im | |
| Format 10 mal 15 Zentimeter die drei St.-Loretto-Kapellen bei Oberstdorf im | |
| Allgäu, eingebettet in eine sanft hügelige und leicht verschwommen wirkende | |
| menschenleere Landschaft. | |
| „Herzlichst grüßt Euch eure Gertrud u. Christian“ wurde auf dem weißen | |
| Rahmen am rechten Bildrand handschriftlich dazu getragen. Damit nicht | |
| genug: Jemand hat, ebenfalls handschriftlich, hinzugefügt: „Hier möchte ich | |
| auch sein.“ Wunsch also und Gesprächsangebot. | |
| ## Karten mit Sinnsprüchen | |
| Die Postkarte stammt von den Brüdern Theodor und Oscar Hofmeister. Theodor | |
| war Kaufmann und ist 1943 in Hamburg gestorben; Oscar war | |
| Justizangestellter, dessen Leben 1937 in Ichenhausen endete, das ist in | |
| Schwaben, in der Nähe von Ulm. | |
| Beide waren neben ihrem Beruf leidenschaftliche Fotografen, die in den | |
| 1890er-Jahren regelmäßig in der Hamburger Kunsthalle Fotoausstellungen | |
| schauten, sich den Wiener Piktorialisten wesensverwandt fühlten. | |
| Und glücklicherweise fanden sie später in München einen Verleger, der ihre | |
| sphärisch-archetypischen Motive („Morgenstunde“, „Es war einmal“, „H… | |
| zum Licht“) mittels des Rakeltiefdrucks unter die Leute brachte. Das | |
| geschah in Büchern oder Postkartenserien, manche garniert mit | |
| Dichtersinnsprüchen. | |
| Diese Karten waren weit mehr als nur Beweisfoto, dass man woanders | |
| tatsächlich war. Sie suchten vielmehr explizit ein Lebensgefühl visuell zu | |
| transportieren: Wo wir im Moment des Postkartenschreibens gerade sind, ist | |
| es schöner, als da, wo ihr seid. Und nun kommst du. | |
| Ist das heute groß anders? Denken wir heute, wo es nahezu unmöglich ist, | |
| ein Handy ohne Kamera zu kaufen, nicht genauso wie Gertrud und Christian in | |
| ihrer vorgeblich so fernen Zeit: Irgendwo ist es schön oder irgend etwas | |
| ist gut – und davon wollen wir ein Bild mitnehmen, wollen es uns und | |
| anderen zeigen, damit die unsere Freude am Erlebten teilen oder mal so | |
| richtig neidisch werden. | |
| Ganz anderes zeigt sich auf der gegenüberliegenden Seite der Ausstellung: | |
| Der in Singapur lebende und arbeitende Künstler Heman Chong präsentiert | |
| seine Serie „God Bless Diana“, die aus 550 dicht aufgestellten, aber | |
| unterschiedlichen Postkarten besteht, die Alltagsmotive wiedergeben, | |
| getragen vom nur vordergründigen Charme des Banalen: Häuserfassaden, | |
| Mülleimer, Sträucher entlang des Wegesrandes. | |
| Das ist gewiss eine Persiflage auf den Bestand an Postkarten unten im | |
| Eingangsbereich, im Museumsshop, wo der gemeine Besucher, der sich nie ein | |
| klassisches Kunstwerk wird leisten können, wenigstens eine Postkarte mit | |
| nach Hause nehmen kann. | |
| Weshalb der Herr Chong noch einen Schritt weiter geht: Während die Karten | |
| der Brüder Hofmeister wie Ikonen hinter Glas stehen, kann man seine in die | |
| Hand nehmen und kaufen – für einen Euro – und noch heute einzeln | |
| nacheinander oder nach und nach in einem Schwung an seine 550 Freunde | |
| verschicken. Man kann aber auch mal allein an sich denken – und kauft sich | |
| in diesem Moment für gerade mal 550 Euro ein komplettes Kunstwerk. | |
| So gestimmt, kann man nun den eigentlichen Ausstellungsbereich des Museums | |
| betreten, geschickt unterteilt in diverse thematisch sortierte Kabinette, | |
| die immer wieder die Spannung zwischen einst und heute aktivieren. | |
| Erhabenes ist zu sehen und Alltägliches; selbst Produziertes und Zitiertes. | |
| Auch Klassiker, wie die New York-Fotografien von Andreas Feininger aus den | |
| 1940er- und 50er-Jahren füllen die Wände und treffen auf die Ergebnisse der | |
| fotoarbeitenden Historikerin Regula Bochsler, die ihre Stadtlandschaften | |
| der 3D-Flyover-Funktion von Apple-Maps verdankt. | |
| ## Inspiration aus Japan | |
| Die vom japanischen Farbholzschnitt inspirierte und sehr genau austarierte | |
| Landschaftsfotografie des Fotopioniers Kajima Seibei (1866–1924) wird mit | |
| den Arbeiten des Dortmunders Jens Sundheim konfrontiert, der seine Bilder | |
| aus dem automatisierten Bilderfluss der Webcam der Präfektur von Yamanashi | |
| generiert, die alle drei Minuten ein Bild des Berges Fuji ins Internet | |
| speist. | |
| Das Genre der erotischen Fotografie wiederum spiegelt sich sowohl in den | |
| statischen stereoskopischen Aufnahmen seit den 1850er-Jahren, als auch den | |
| Aufnahmen der Spanierin Laia Abril. Sie zeigt uns junge Paare, die darauf | |
| warten, dass sich Kunden in die Webcam einwählen, um an ihrem angeblich | |
| privaten Sexleben teilzuhaben. | |
| Sehr spannend ist es auch, die Arbeit des Amerikaners Doug Rickard | |
| kennenzulernen, der selbst nicht mehr loszieht, um die Motive für seine | |
| sozialkritische Fotografie auf der Straße zu finden. Er durchforstet | |
| stattdessen das Netz auf der Suche nach schlichten Handyaufnahmen oder | |
| wackeligen Videos, aus denen er seine eigenen Einzelbilder als | |
| Bestandsaufnahme eines verlorenen Landes gewinnt. | |
| Das ist ein Verfahren, das die Frage nach der Kategorie der Autorenschaft | |
| noch mal erweitert: Sind die anonymen Knipser und Filmer die Urheber – oder | |
| sind es die Finder und Bearbeiter? Oder beide, weil längst der eine ohne | |
| den anderen nicht mehr auskommt? | |
| Andererseits zeigt die Ausstellung Stationen, die zum Mitmachen einladen: | |
| „we share“, sozusagen. Da ist zum einen ein Display, das uns die | |
| Instagram-Seite von Ai Weiwei zeigt, auf der man hoch- und runterscrollen | |
| kann, auf dass die tägliche Fotobilderproduktion des wohl nach Mao Tse Tung | |
| berühmtesten Chinesen sichtbar wird. | |
| Ai Weiweis Strategie, sich fortwährend zu zeigen, ist längst zum | |
| entscheidenden Moment seiner Kunstproduktion geworden. Weshalb sich auch | |
| bald offenbart, dass die Spannung immer dann steigt, wenn der Meister im | |
| übertragenen Sinne persönlich auf einem der Fotos auftaucht und diesem | |
| damit eine zusätzliche Gewichtung gibt: Dies ist ein fotografisches | |
| Selbstporträt Ai Weiweis, auf das ich, der Besucher, schaue. | |
| Wer im Vergleich dazu ganz auf sich selbst zurückgeworfen werden möchte, | |
| der betrete bitte den nächsten, Raum, wo eine weitere Bildermachmaschine | |
| wartet: eine Suchmaschine, die die Internetseiten verschiedener Staaten | |
| nach einem eingegebenen Begriff durchforstet und innerhalb von Sekunden | |
| Fotos zu diesem Begriff aufblättert. | |
| ## Abfrage im Selbsttest | |
| Soll man ruhig mal selbst probieren! Also gebe ich meinen Namen ein und in | |
| Sekundenschnelle werden alle möglichen Gesichter gezeigt, die nicht mir | |
| gehören, darunter immer wieder das Gesicht des bärtig-smarten | |
| Psychologie-Professors Frank Keil von der Universität in Yale, das ich | |
| schon von gelegentlichen Google Image-Abfragen her kenne. Bis ich dann | |
| plötzlich doch zu sehen bin – auf einer Seite, die dem Iran zugeordnet | |
| wird, warum auch immer. | |
| Danach tippe ich einfach so und ohne nachzudenken „Olaf“ und „Scholz“ e… | |
| und der Bildschirm friert ein, das System stürzt ab, schickt schließlich | |
| eine Fehlermeldung und ist nicht wieder neu zu starten. Das ist jetzt nicht | |
| erfunden! Hätte ich doch nur ein Foto davon gemacht! Dann würde man mir | |
| jetzt glauben. Vielleicht. | |
| 18 Aug 2015 | |
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