# taz.de -- Ai-Weiwei-Ausstellung in London: „Was macht denn dieser Kerl hier… | |
> Vor fünf Jahren besuchte Ai Weiwei zuletzt eine seiner eigenen | |
> Ausstellungen. Nach Haft und Ausgangssperre ist ihm diese Freiheit fremd | |
> geworden. | |
Bild: In der Royal Academy of Arts: Ai Weiwei knipst seine Installation „Tree… | |
LONDON taz | Im Innenhof der Londoner Royal Academy of Arts steht seit | |
Neuestem eine kleine Baumgruppe, leblos und kahl, wie in einer Wüste. Stück | |
für Stück wurde sie aus Fragmenten toter Bäume zusammengesetzt. Riesige | |
Schrauben halten die größeren Äste zusammen. Mittendrin steht die marmorne | |
Nachahmungen eines schwarzen Armsessels. Auf einem ähnlichen Sessel sitzt | |
in Peking, in Maos Mausoleum dessen Statue. Eine solche Neuinterpretation | |
des Alten ist geradezu typisch für die Werke des chinesischen Künstlers Ai | |
Weiwei, dessen Ausstellung am Wochenende in London in der Royal Academy of | |
Arts eröffnet wurde. | |
Fünf Jahre sind es her, seit Ai bei einer seiner eigenen Ausstellungen mit | |
dabei sein konnte. Damals ließ er, ebenfalls in London, 100 Millionen | |
handgefertigte Sonnenblumenkerne aus Porzellan in die Tate Modern schütten. | |
Zwischen den beiden Ausstellungen liegen für den Künstler düstere | |
Erfahrungen von Überwachung, Haft, Haus- und Landarrest. Wie alle anderen | |
Ausstellungen seit 2010 plante Ai auch diese jetzt von Peking aus. Sein | |
Team baute dann die Arbeiten in London auf. Doch im Juli überraschten die | |
chinesischen Behörden Ai mit der Rückgabe seines Reisepasses. Hier in | |
London bezeichnet er die Anwesenheit auf der eigenen Ausstellung als nahezu | |
befremdend und witzelt: „Auch mein Team fragt sich: Was macht denn dieser | |
Kerl hier“? | |
Die Ausstellung zeigt viele von Ais ohnehin bekanntesten Arbeiten – wie die | |
vielen rekonfigurierten Qing-Dynastie-Möbelstücke, aber auch die von ihm | |
mit starken Farben oder mit „Coca Cola“ übermalten, tausende von Jahren | |
alten Vasen. Es sind Ais typische Themen: Erneuerung, Rekontextualisierung, | |
Erhalt, Zerstörung. Fast unscheinbar wirkt dagegen das aus einem | |
Kleiderbügel gebogene Profil Marcel Duchamps, „Hanging Man“ (1985), aus Ai | |
Weiweis New Yorker Zeit. Damals machte er in der Kunstszene erstmals auf | |
sich aufmerksam. | |
In einem minimalistischen Raum steht auf einer Marmorwiese ein Kinderwagen, | |
ebenfalls aus Marmor. In den Ecken: Kamera-Imitationen. Sie erzählen eine | |
Anekdote aus dem Leben Ais nach: Als der Künstler mit seinem Sohn vor | |
einigen Jahren von einem Mann immer wieder fotografierte wurde, | |
konfrontierte Ai Weiwei ihn und konfiszierte die Speicherkarte der Kamera. | |
Auf ihr entdeckte er eine Reihe von Spionageaufnahmen völlig privater | |
Momente. | |
## Mit erhobenen Mittelfingern | |
Dieses zum Thema der Überwachung ist auch für das Gastland relevant: Erst | |
im Februar bestätigte ein britisches Gericht, dass die britische | |
Nachrichtendienstzentrale GCHQ sieben Jahre lang Menschen illegal | |
bespitzelt hatte. Dennoch versucht die konservative Regierung, das | |
Privatrecht im Namen der zivilen Sicherheit weiter zu beschränken. Kurz | |
nach seiner Ankunft in London suchte Ai den von Großbritannien stark | |
bewachten Julian Assange in der Botschaft Ecuadors auf. Beide lächeln mit | |
erhobenen Mittelfingern auf einem Instagram-Foto. | |
Was die Staatsmacht und Freiheitseinschränkung betrifft, ist auch die schon | |
in Venedig ausgestellte Installation S.A.C.R.E.D. zu sehen, die sechs | |
Szenen der 81-tägigen Haft von Ai zeigt und die BetrachterInnen dabei in | |
die Überwachungsperspektive versetzt. Anders als in Venedig, konnte Ai | |
diesen Raum mit einer „aufheiternden Tapete“ umgestalten. Im hellen | |
Goldton, abgestimmt mit der barocken Originaldekoration des Raums in | |
London, wird die Installation umrandet von einem Muster aus Handschellen, | |
Kameras und Twittervögeln mit Ais Profil. | |
Der größte Raum der Royal Academy of Arts gilt jenem Werk, welches Ai ins | |
Visier der chinesischen Regierung brachte: Entlang der langen Seitenwänden | |
stehen, drei Meter hoch, die Namen und Geburtsdaten der 5.335 durch das | |
Erdbeben in Sichuan umgekommenen Kinder. Das war 2008. Ai recherchierte, | |
nachdem die Fakten zum Beben von Staatsseite aus verschwiegen wurden. In | |
der Mitte des Raums liegt das Werk „Gerade“, hergestellt aus tausenden, den | |
Erdbebenruinen entnommenen Stahlstäben. Weil mit ihnen beim Bau von Schulen | |
in Sichuan gespart wurde, kamen so viele Kinder ums Leben. | |
## Mehr Gedenkstätte als Ausstellungsraum | |
Wie ein düsteres Massengrab erscheinen die ausgegradeten Stäbe nun und | |
wirken wie ein auseinandergerissener Erdspalt. Eine Bilderserie und eine | |
Videoinstallation im Hintergrund dokumentieren das Geschehene bis ins | |
schrecklichste Detail. Der Gesamteindruck hat mehr von einer Gedenkstätte, | |
als einem künstlerischen Ausstellungsraum. | |
Nebenbei liegen in einem separaten Zimmer auch die verarbeiteten | |
Überbleibsel seines von der chinesischen Regierung zerstörten Studios, | |
gemeinsam mit hunderten roter Flusskrabben aus Porzellan. Sie erinnern an | |
das Wortspiel des Festmahls mit Flusskrabben, zu dem Ai Weiwei kurz vor der | |
Zerstörung des Baus einlud. Flusskrabbe bedeutet im Gleichlaut auf Mandarin | |
Harmonie, ein kommunistisches Lieblingswort. Im chinesischen Internetslang | |
steht es für Zensur. | |
In einem anderen Raum: abstraktere, doch in ihrem Detail bestechende | |
Varianten von Würfeln aus verschieden Materialien, jeweils einen Kubikmeter | |
groß. Der aus komprimiertem Tee ist nicht mehr ganz unbekannt. Neu sind | |
hingegen eine Arbeit ganz aus Glas sowie ein Würfel, der sich als | |
auseinandernehmbare chinesische Schatztruhe entpuppt. Auch ein Kronleuchter | |
im barocken Oktagon der Akademie besticht – und sieht aus, als gehöre er | |
zur ursprünglichen Einrichtung. Doch der Rahmen besteht vollkommen aus | |
Fahrrädern, genau wie ein anderes Ai-Kunstwerk aus 1.200 Fahrrädern. Das | |
gastiert derzeit allerdings nicht in der Akademie, sondern im Londoner | |
Finanzzentrum neben Norman Fosters „Gherkin“. | |
## Sexspielzeug und Porzellan | |
Und wo ist der „Maßstab aller Dinge“? Dekorativ und künstlerisch verspielt | |
findet man das von Ai Weiwei angeeignete Symbol des gehobenen Mittelfinger | |
als Musterfigurationen auf feinster Tapete – in einem Raum, in dem auch | |
verschiedene Gegenstände aus feinstem chinesischen Porzellan gezeigt | |
werden. Neben Kosmetikbehältern, Handschellen und Sexspielzeugen liegen | |
hier auch ein Meinungsfreiheitspuzzle, zwei Kataloge über Ai sowie die | |
Imitation der Überreste eines Skeletts, welches in der Nähe eines | |
Straflagers aus der Mao-Zeit gefunden wurde. | |
Das Zusammenspiel all dieser Dinge macht nachdenklich, wie Ai Weiwei seine | |
eigene Zukunft sieht. Doch bei der Eröffnung seiner Ausstellung versicherte | |
er, er sei stets hoffnungsvoll, ja er vertraue trotz allem den chinesischen | |
Behörden: „Sie haben mir versprochen, dass ich wieder nach China einreisen | |
kann. Ich bin so erzogen, dass ich ihnen glaube.“ Dennoch will er die | |
nächsten Jahre teils in Berlin, teils in Peking verbringen. | |
Aber auf die Frage nach seinem Sohn gab Ai Weiwei an, dass ihn die Familie | |
verletzlicher gemacht habe und dass er nicht unbedingt wolle, dass sein | |
Sohn auch einmal in die Kunstwelt eintrete. Letzte Woche lief der | |
sechsjährige Ai Lao dennoch zusammen mit seinem Papa und Anish Kapoor vor | |
den Augen der Öffentlichkeit – bei einem Solidaritätsmarsch für | |
Flüchtlinge. | |
21 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Daniel Zylbersztajn | |
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