| # taz.de -- Retrospektive von Ai Weiwei: Flucht als Readymade | |
| > Zwischen Selbstinszenierung und klarer politischer Verortung: Die große | |
| > Retrospektive von Ai Weiwei in Düsseldorf ermöglicht Differenzierung. | |
| Bild: Ai Weiwei, Installationsansicht Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, K21, 2… | |
| East Village, 1990er-Boheme: Autor Allen Ginsberg, Demonstranten in der | |
| Wall Street, Wahlkämpfer Bill Clinton. Und immer wieder ein chinesischer | |
| Kunststudent, pausbäckig, jungenhaft, im Museum, im Park, im Bett. Von 1983 | |
| an studierte [1][Ai Weiwei] zehn Jahre in New York; während dieser Zeit | |
| entstanden unzählige Fotos, die einerseits den Geist der Metropole | |
| dokumentierten, andererseits auch Ais schon damals ausgeprägten Sinn für | |
| Selbstinszenierungen zeigten. | |
| 57 dieser Fotos sind in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW zu sehen, und | |
| auf vielen taucht der Künstler selbst auf – frühe Selfies, die einen | |
| Widerhall finden in den Handyaufnahmen, mit denen Ai zuletzt die globale | |
| Migration dokumentierte und dabei ebenfalls häufig in die Kamera grinste. | |
| Düsseldorf ist spät dran: Galt Ai Weiwei in den Nullerjahren als Prototyp | |
| des globalen Politkünstlers, so wird der heute 61-Jährige mal als | |
| geschickter Selbstvermarkter geschmäht, der die Kritik am chinesischen | |
| Regime zur weltweit verkaufbaren Trademark gemacht hat, mal als | |
| Schaumschläger, dessen Rolle gegenüber dem Regime alles andere als | |
| eindeutig ist und der zudem in seiner teils industriell organisierten | |
| Kunstproduktion ethische Grundsätze vermissen lässt. Natürlich ist es nicht | |
| Aufgabe einer Ausstellung, dieses Bild zu korrigieren, bloß: Eine gewisse | |
| Begründung, weswegen man den Künstler ausgerechnet jetzt präsentiert, | |
| sollte man schon bekommen. | |
| ## Die Kritik zielt an der Kunst konsequent vorbei | |
| Die Schau macht das an den beiden Ausstellungsorten Ständehaus und | |
| Grabbeplatz nicht ungeschickt, indem sie Werke aus allen Arbeitsphasen Ais | |
| präsentiert. Mit denen kann man die Kritik ein Stück weit nachvollziehen, | |
| erkennt aber gleichzeitig, dass sie an dieser Kunst konsequent vorbei | |
| zielt. | |
| Gezeigt werden drei Phasen, die sich recht eindeutig mit Lebens- und | |
| Arbeitsorten verbinden lassen: Im Ständehaus sieht man (wenige) frühe | |
| Arbeiten aus New York, in denen der Künstler mit Gemälden wie „Coke | |
| Painting“ (1982–1983) seinen Weg zwischen Fluxus und Pop suchte. Darauf | |
| folgen primär in Peking verortete Projekte ab 1993, Projekte, die teils | |
| dokumentarischen, teils kunsthandwerklichen Charakter haben und die von | |
| Jahr zu Jahr immer klarer politisch lesbar sind. Es geht um staatliche | |
| Repression – das Dekor eines kunstfertig gestalteten Porzellantellers, | |
| „Brain Infliction on Plate“ (2012), zeigt einen CT-Scan von Ais Schädel | |
| nach einer Misshandlung durch Polizisten 2009. | |
| Außerdem geht es um einen Überwachungsstaat, der sich in Videos und | |
| Installationen als so lächerlicher wie gefährlicher Tiger erweist: Hilflose | |
| Polizisten sind da zu sehen, die vom beobachteten Künstler höhnisch | |
| vorgeführt werden, aber auch nachgestellte Folterszenen in den Guckkästen | |
| von „S.A.C.R.E.D.“ (2011–2013). | |
| Die letzte Phase bezeichnet den Punkt, an dem die Stimmung gegen Ai kippte: | |
| Arbeiten nach dem Umzug nach Berlin 2015, als der Künstler begann, sich mit | |
| den weltweiten Migrationsbewegungen zu beschäftigen. Und tatsächlich | |
| scheinen diese Projekte eigenartig ungenau: Videos aus den Camps in Idomeni | |
| (2016) und Calais (2018) zeigen Bilder ohne echten Erkenntniswert, das | |
| riesige Bambus-Schlauchboot „Life Cycle“ (2018) wirkt naiv, und wenn Ai | |
| sich in umfangreichen Fotoserien immer wieder neben entkräftete Migranten | |
| stellt, kann man das als Selbstinszenierung eines übergroßen Egos | |
| kritisieren. Das dem Zynismus von rechts kaum noch etwas entgegenzusetzen | |
| weiß. | |
| ## 2064 zurückgelassene Kleidungsstücke | |
| Der Gegenentwurf liegt in der (kunst-)handwerklichen Qualität der Arbeiten: | |
| in den blau-weißen Porzellanobjekten (2017), die Bezug auf traditionelle | |
| chinesische Keramik nehmen, dabei aber Motive aus dem Komplex Flucht und | |
| Vertreibung zitieren. Oder in der Installation „Laundromat“ (2016): 2.064 | |
| auf der Flucht zurückgelassene Kleidungsstücke, gesammelt im verlassenen | |
| [2][Lager Idomeni.] Hier lässt sich ein Künstler nicht ein auf das Gemecker | |
| von AfD und Pegida, stattdessen erklärt er die Flucht zum künstlerischen | |
| Readymade. | |
| Schon früher ließ Ai sich gut über den Komplex Kunst/Handwerk erschließen. | |
| Zwei riesige Installationen am Grabbeplatz zeigen, wie genau er auch schon | |
| in China dokumentarisches Material mit industrialisiertem Handwerk | |
| ästhetisierte: „Straight“ (2008–2012), 142 Kisten Baustahl aus den Ruinen | |
| vom 2008er Erdbeben in Sichuan, flankiert von einer Namensliste der über | |
| 5.000 getöteten Schüler sowie einem Video, aus dem sich schließen lässt, | |
| dass der verwendete Stahl von minderer Qualität war. | |
| Sowie „Sunflower Seeds“, 60 Millionen handbemalte Sonnenblumenkerne aus | |
| Porzellan, die einerseits auf die chinesische Kunsthandwerksindustrie in | |
| Jianxi verweisen, andererseits als Kritik am als „Sonne“ verehrten Mao | |
| gelesen werden können – zumal die Installation von den | |
| institutionskritischen Legoobjekten „Zodiac“ (2018) flankiert wird. | |
| Man muss Ai nicht mögen. Man kann auch diese Ausstellung kritisieren, als | |
| auf den Effekt hin konzipiert, als populistisch, als politisch unscharf. | |
| Aber: Indem man ihn ausschließlich als Selbstdarsteller schmäht, wird man | |
| Ais Kunst nicht gerecht – und für diese Erkenntnis lohnt die Düsseldorfer | |
| Schau auf jeden Fall. | |
| 9 Jul 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Falk Schreiber | |
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