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# taz.de -- Facebook in Russland: Opposition? Erstmal melden
> Für kritische Journalisten in Russland spielt Facebook eine zentrale
> Rolle. Viele Profile werden von der US-Firma gesperrt – dank Trollen.
Bild: Wer gegen den Kreml hetzt, wird gemeldet.
An einem Morgen im Mai ging Sergej Parchomenko online und postete einen
kritischen Text über die Vertuschung der Umstände des MH 17-Absturzes über
der Ukraine durch die russische Regierung. Der Journalist, der nach dem
Zusammenbruch der Sowjetunion gemeinsam mit der US-Zeitschrift Newsweek
Russlands erstes investigatives Nachrichtenmagazin gegründet hatte,
inzwischen aber seine Texte auf Facebook veröffentlicht, bekam viele
„Likes“ für seinen Post. Ein paar Stunden später löschte Facebook den Te…
„Ich bin als Journalist bekannt in Russland, deshalb war das ein großer
Skandal“, sagt Parchomenko. Er glaubt, dass er Opfer eines organisierten
Angriffs von Trollen wurde, die von der russischen Regierung bezahlt werden
und deren Beschwerden mit Facebooks System spielen, das auf
Nutzerrückmeldungen beruht. Nachdem sich die Löschung des Posts im Internet
und Radio herumsprach, reagierte Facebook. Der Post wurde wieder
hergestellt, das Unternehmen entschuldigte sich. „Ich glaube an Facebook“,
sagt Parchomenko. „Es ist das einzig verbliebene Mittel der freien
Verbreitung von Informationen.“
Die wichtigen Medien Russlands werden heute zumeist von der Regierung oder
Kreml-freundlichen Kräften kontrolliert – von Fernsehsendern und einst
unabhängigen Zeitungen der Jelzin-Ära bis hin zu populären
Online-Newsagenturen und landeseigenen Social-Media-Seiten. Darum spielt
Facebook eine zentrale Rolle für die Opposition. Das US-amerikanische
Unternehmen ist für viele eine Art Ersatz der vierten Gewalt im Land.
Journalist Parchomenko etwa hat fast 130.000 Facebook-Follower. „Ich bin
eine eigene Zeitung“, sagt er. Andere nutzen ihre Profile als Forum für
politische Diskussion und Organisation.
Doch in den vergangenen Wochen kam es auf Facebook immer wieder zu
Sperrungen der Profile russischer und ukrainischer Nutzer. Urlaubsbilder
oder klassische Gedichte wurden gemeldet, weil sie angeblich Hassreden,
Gewalt und Nacktheit beinhalten und gegen die Regeln der Plattform
verstoßen würden.
„Hallo, liebes Facebook“, schrieb der russische Journalist Arkad
Babtschenko, als er wieder Zugriff auf seine Seite hatte. „Vor drei Tagen
habt ihr meinen Account, wegen eines Fotos von gegrillten Würstchen in Lviv
blockiert, das angeblich Gewaltszenen darstelle. Lasst mich das zum x-ten
Mal erklären: ich bin ein Bürger in Opposition zur aktuellen russischen
Regierung. Ich schreibe kritische Artikel. Aber die amtierende Regierung
hat Probleme mit jeder Manifestation von Widerspruch – auch auf Facebook.“
## „Gegrillte Ruskis“
Babtschenko, der für seine erschütternden Memoiren über seine Zeit als
russischer Soldat in Tschetschenien bekannt wurde, erklärt in dem Post
weiter, dass Pro-Putin-Trolle politische Oppositionelle mit erschwindelten
Beschwerden ins Visier nehmen.
Babtschenko glaubt, dass Facebook seinen Account automatisch blockiert hat.
Hätten Moderatoren den Begleittext zu seinem harmlosen Marktplatzfoto
gelesen, so ist er sich sicher, wäre ihnen klar gewesen, dass es sich bei
seiner Beschreibung eines der handgeschriebenen Grillstand-Schilder – das
in Anspielung auf die Darstellung der West-Ukrainer als blutdurstige
Barbaren im russischen Fernsehen nicht „gegrillte Würstchen“ sondern
„gegrillte Ruskis“ bewarb – nicht um eine Glorifizierung von Gewalt hande…
sondern um eine journalistische Beobachtung von zeitgenössischem schwarzen
Humor.
„Russland hat fast alle unabhängigen Medien zerstört“, schrieb mir der
Journalist über Facebook, wo er mehr als 100.000 Follower hat. „Ich arbeite
hier. Ein blockierter Account bedeutet für mich nur eins: ein Berufsverbot
und, in der Konsequenz, erzwungene Emigration.“
Für Eva Galperin von der Electronic Frontier Foundation, einer
US-amerikanischen NGO für digitale Bürgerrechte, sind Fälle wie dieser
weniger ein Missverständnis als ein Musterbeispiel für die Risiken, die
entstehen, wenn man sich auf eine private Plattform verlässt, um politische
Informationen zu verbreiten oder Kundgebungen zu planen. „Russen vertrauen
Facebook, weil Facebook nicht der russischen Regierung gehört“, sagt
Galperin. „Aber Facebook ist komplett intransparent.“
Letztes Jahr floh Pawel Durow, der „russische Mark Zuckerberg“, aus dem
Land, nachdem er sich geweigert hatte oppositionelle Seiten zu sperren und
Informationen über ukrainische Aktivisten preiszugeben. Seitdem
kontrollieren Kreml-freundliche Geschäftsmänner VKontakte, das
Facebook-ähnliche soziale Netzwerk, das Durov aufgebaut hat. „Die Art der
Anfragen, die die russische Regierung an VKontakte geschickt hat, sind
wahrscheinlich dieselben, die sie an Facebook schicken“, sagt Galperin.
„Aber konkret wissen wir das nicht, weil Facebook das nicht offenlegt.“
Unternehmen wie Google, Twitter und Wikipedia senden Kopien aller
Löschaufforderungen, die bei ihnen eingehen, an eine Archivseite namens
Chillingeffects.org. Facebook, das auch schon eine Veranstaltungsseite für
eine Oppositionskundgebung des Aktivisten Alexei Nawalny gesperrt hat,
beteiligt sich nicht daran. „Wir können nur vermuten, beobachten und
zusehen, wie Sachen verschwinden“, sagt Galperin.
Ostap Karmodi, ein russischer Journalist, der in Prag arbeitet, ist
alarmiert, seit er von den gesperrten Accounts gehört hat. „Im Moment gibt
es keine andere Plattform für die Meinungsfreiheit“, so Karmodi. „O. K,
Twitter. Aber du kannst keine investigative Reportage in 140 Zeichen
veröffentlichen.“ Private Blogs seien für oppositionelle Blogger keine
wirkliche Alternative zu Facebook – schon allein weil es eine viel stärkere
Vernetzung biete. „Wenn Parchomenko etwas postet, sehen das andere
unmittelbar in den Feeds ihrer Freunde. Es wird geliked, weitergepostet und
kommentiert – von seinen Followern und anderen populären Bloggern“,
schreibt Karmodi in einer E-Mail. „Wenn ein solcher Autor auf ein privates
Blog umzieht, ohne die Möglichkeit, seine Einträge auch nur auf Facebook zu
kopieren, dann verliert er 90 Prozent seiner Reichweite.“
Letzten Monat hat Karmodi mit ein paar Mitstreitern eine Onlinepetition
gestartet, mit dem Titel: „Stoppt politisches Blockieren auf Facebook“. Mit
Zitaten von prominenten Accounts aus Russland und der Ukraine, die
blockiert wurden, fordert die Petition Facebook auf, ein neues
troll-sicheres Moderationssystem aufzusetzen. Etwa 14.000 Unterschriften
wurden bereits gesammelt, darunter auch viele von einflussreichen
Schriftstellern, Journalisten, Dichtern und Prominenten aus Russland und
der Ukraine.
## Was ist beleidigend?
Als ich mich nach den Trollen erkundige, erklärt mir eine
Facebook-Sprecherin, man habe bereits Erfahrung mit Aktivisten aus dem
Nahen Osten und Justin-Bieber-Fans gemacht und verweist mich an einen
offenen Brief, den Facebook den Unterzeichner der Petition schrieb: „Wir
haben über die Jahre gelernt, dass Menschen Kampagnen betreiben können, um
Inhalte, die ihnen nicht gefallen, zu melden“, schreibt Facebook da, und
versichert den Unterzeichnern, dass das firmeneigene Moderationssystem, das
unparteiische Moderatoren mit russischen und ukrainischen Sprachkenntnissen
beschäftigt, für die Lösung dieser Probleme geeignet ist.
Auch wenn Facebook spezifische Fälle nicht kommentieren möchte, steht in
dem Brief auch, dass die Mehrheit der russischen und ukrainischen Inhalte,
die Facebook entfernt hat, tatsächlich gegen deren Standards verstößt.
In den Augen von Joe Pitts, Dozent an der Stanford Law School, ist dies
eine heikle Behauptung: „Es ist schlimmer als Potter Stewarts „Ich erkenne
es, wenn ich es sehe“-Definition von Pornografie, weil die Entscheidung
darüber, was beleidigend ist und was nicht, komplett in den Händen eines
Unternehmens liegt.“
Mit dem Hinweis, dass soziale Verantwortung für große US-Firmen in der
Vergangenheit immer auch eine gute Geschäftsidee gewesen ist, sofern die
Firma innovativ bleiben wollte, fügt Pitts hinzu, dass er Facebook dazu
raten würde, im Zweifel für Menschenrechte einzustehen, wenn es um die
Balance von moralischen und monetären Imperativen gehe. Er wünsche sich
auch die Einführung eines bedeutungsvollen Beschwerde-Prozesses, damit sich
die User gegen Verstöße wehren können. „Mit Macht kommt Verantwortung“,
sagt Pitts. „Wenn du die Meinungsfreiheit nicht schützen kannst, weil du
Angst hast, aus Russland rausgekickt zu werden, ist das ein wirkliches
Problem.“
Übersetzt aus dem Englischen von Laila Oudray
5 Jul 2015
## AUTOREN
Sally McGrane
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