# taz.de -- Geschlechtertests vor Frauenfußball-WM: „Eine Idee des 19. Jahrh… | |
> Die Genderforscherin Eva Boesenberg hält die Tests für anachronistisch. | |
> Sportlerinnen, beklagt sie, müssen einem bestimmten Bild von Weiblichkeit | |
> entsprechen. | |
Bild: Welches Hormonlevel entspricht einer bestimmten Form von Weiblichkeit: Ca… | |
Vor der Frauenfußball-WM in Kanada, die am 6. Juni beginnt, musste sich die | |
deutsche Nationalmannschaft wie andere teilnehmende Teams auch einem | |
Geschlechtertest unterziehen. Grund dafür: Bei der WM 2011 wurde dem Team | |
von Äquatorialguinea unterstellt, Spielerinnen berufen zu haben, die | |
genetisch beziehungsweise vom Hormonstatus her männliche Merkmale tragen. | |
Die DFB-Spielerinnen mussten jetzt jeweils ein Attest von ihrem Frauenarzt | |
einholen. Zudem versicherte der DFB-Mannschaftsarzt Bernd Lasarzewski dem | |
Weltverband Fifa, dass die Kickerinnen ohne jeden Zweifel Frauen seien. | |
taz: Frau Boesenberg, der Weltfußballverband Fifa macht Schlagzeilen, weil | |
er Fußballerinnen vor der WM zum Geschlechtstest schickt. Verstehen Sie die | |
Aufregung? | |
Eva Boesenberg: Ja und nein. Einerseits hatte das IOC zwar schon 1999 die | |
obligatorischen Geschlechtertests abgeschafft. Aber seine grundsätzlichen | |
Strukturen hat der Sport trotzdem nicht verändert. Er tut immer noch so, | |
als könne man Mann und Frau zweifelsfrei voneinander trennen. | |
Vom aktuellen Stand der Genderforschung aus gesehen: In welchem Jahrhundert | |
befindet sich der internationale Leistungssport? | |
Ungefähr im 19. Jahrhundert. Die strikte Trennung der Geschlechter: Frauen | |
gehören in die Küche und sind zuständig für die Privatsphäre, während | |
Männer draußen in der Welt der Politik und des großen Geldes unterwegs | |
sind, das ist eine Idee des 19. Jahrhunderts. | |
Ist diese strikte Trennung im Leistungssport noch zeitgemäß? | |
Sicher nicht. Denn durch diese Trennung werden ganze Gruppen unterdrückt, | |
die sich da nicht einordnen wollen oder können: Intersex-Leute, Trans-Leute | |
und viele andere. | |
Trotzdem musste erst Caster Semenya auftauchen, um dem Leistungssport | |
vorzuführen, dass seine Geschlechteridee überholt ist. | |
Das Spannende am [1][Fall Semenya] war vor allem, dass selbst | |
Wissenschaftler, die nichts mit Genderforschung am Hut haben, einräumen | |
mussten, dass es keinen absoluten Test, kein wissenschaftlich haltbares | |
Merkmal gibt, mit dem man die Geschlechter fein säuberlich voneinander | |
unterscheiden kann. Weder sekundäre Geschlechtsmerkmale noch Hormone taugen | |
da. | |
Seit 2012 definiert der internationale Leichtathletikverband IAAF die | |
Einteilung über das Hormon-Level. Als Frau gilt nun, wer weniger als 10 | |
Nanomol Testosteron im Liter Blut hat. | |
Das geht immer noch an den Realitäten vorbei. Die Einteilung nach | |
Geschlechtern an sich ist problematisch. Man stelle sich nur vor, jemand | |
würde fordern, man solle die Politik oder die Wirtschaft nach Geschlechtern | |
trennen. Sie ist im Sport aber besonders absurd, weil von einer | |
Leistungssportlerin Eigenschaften verlangt werden, die aus dem Bild | |
klassischer Weiblichkeit herausfallen. Leistungssportlerinnen sind stark | |
und schnell, nicht klein und zierlich. Dass Frauen Leistungssport | |
betreiben, das allein stellt das klassische Geschlechtermodell doch bereits | |
in Frage. Logischerweise ist der Anteil derer, die sich keinem Geschlecht | |
eindeutig zugehörig fühlen unter Leistungssportlerinnen signifikant höher | |
als in der Gesamtbevölkerung. Trotzdem verlangt der Sport, dass Athletinnen | |
sich in die Schublade Frau einteilen lassen. | |
Anders gesagt: Frauen müssen femininer sein, als sie eigentlich können, | |
wenn sie Medaillen gewinnen wollen? | |
Ja, Frauen werden bestraft für ihre Stärke. Es geht bei diesem ganzen | |
Verfahren ja nicht darum, welche Hormon-Level Frauen tatsächlich haben, | |
sondern darum, welches Hormon-Level einem bestimmten Bild von Weiblichkeit | |
entspricht. Deswegen müssen Frauen, die diesem Bild nicht entsprechen | |
werden, künstlich unter Kontrolle gebracht werden. Dieses Muster wird | |
besonders offenkundig in der Vermarktung von Frauensport. Die Athletinnen | |
werden von den Vereinen und Verbänden angehalten, möglichst weiblich zu | |
wirken. Man kann da von Zwangsheterovisualität sprechen: 2011 gab es zur | |
Frauenfußball-WM Werbeclips, in denen die Nationalmannschaft ihr Spiel | |
unterbricht, um sich die Lippen nachzuziehen. Es ist bitter, wie | |
Sportlerinnen geradezu systematisch zurückgeholt werden in ein | |
traditionelles Frauenbild. Wenn eine Hochspringerin interviewt wird, dann | |
ist die Überschrift: „Mein Pilz-Risotto ist auch ganz ordentlich.“ | |
Warum haben es zeitgemäße Geschlechtermodelle so schwer, sich im Sport | |
durchzusetzen? | |
Vor allem deshalb, weil der Sport selbst dazu beiträgt, bestimmte Ideen von | |
Geschlecht ständig zu reproduzieren. Die Idee, was natürlich ist, wird in | |
erster Linie durch eine ständige Wiederholung erzeugt. In dieser | |
Naturalisierung ist der Sport deshalb ein wichtiger Faktor, weil er unser | |
Verhältnis zum Körper entscheidend mitbestimmt. Sehr verkürzt: Die Leute | |
denken, Sport ist natürlich, also halten sie die dort vollzogene strikte | |
Trennung der Geschlechter auch für natürlich. Das gilt vor allem für den | |
Publikumssport, weil der besonders breite kulturelle Wirkungen erzielt. Und | |
hier wird es spätestens absurd: Denn die Körper, die im Leistungssport zum | |
Einsatz kommen, sind ja sichtbar nicht „natürlich“, sondern Produkt | |
gewisser Kulturtechniken. | |
Seit der Fall Semenya das Problem auf die Agenda gesetzt hat, gab es mit | |
der indischen Sprinterin Dutee Chand nur einen weiteren Fall, der | |
Aufmerksamkeit erregt hat. Wie viele Menschen betrifft das überhaupt? | |
Natürlich reden wir im Moment zahlenmäßig von nicht sehr vielen Personen. | |
Allerdings ist es aber ja auch so, dass momentan alle gezwungen werden, | |
sich in diesem Geschlechtersystem zu verorten. In den Siebziger- und | |
Achtzigerjahren stieg die Zahl der Native Americans bei Volkszählungen in | |
den USA viel stärker an, als es durch die Geburtenrate erklärlich gewesen | |
wäre. Das hatte damit zu tun, dass durch das American-Indian-Movement und | |
andere soziale Bewegungen mehr Menschen sich trauten, sich als Native | |
American zu outen. Solch einen Effekt würde ich auch erwarten, wenn das | |
Zweigeschlechtermodell ins Wackeln kommt. | |
Wenn das Zweigeschlechtermodell nicht mehr taugt, was wäre denn die | |
Alternative für den Sport? | |
Es gibt verschiedene Alternativen. Forscherinnen wie Judith Butler arbeiten | |
darauf hin, diese Kategorien ganz abzuschaffen. Andere wie Jack Halberstam | |
versuchen eher, die Kategorien flexibler und damit lebbarer zu gestalten. | |
Das sieht man ja schon auf Facebook, wo man mittlerweile 50 Kategorien hat, | |
um sein Geschlecht anzugeben. | |
50 Mal Gold, Silber und Bronze im 100-Meter-Lauf bei den Olympischen | |
Spielen, das könnte unübersichtlich werden. | |
Das stimmt. Aber es gibt auch den Vorschlag, Leistungsklassen zu schaffen, | |
die nicht am Geschlecht hängen. Im Boxen, Gewichtheben oder Ringen haben | |
wir das ja schon mit den Gewichtsklassen. Warum sollte man nicht | |
Leistungsklassen nach Gewicht, Größe und Laktatwerten bilden? Dann könnten | |
Frauen gegen Männer antreten. | |
Wäre es fair, eine 60 Kilo schwere Ringerin auf die Matte zu schicken gegen | |
einen 60 Kilo schweren Ringer? | |
Ja, das glaube ich schon. Das wäre dann fair, wenn die Frauen ebenso gute | |
Voraussetzungen hätten: also gleiche Trainingsbedingungen, gleicher Zugang | |
zum Profisport. Das ist offensichtlich noch lange nicht so. | |
Würde der Leistungssport die Aufgabe des Zweigeschlechtermodell denn | |
überleben? | |
Davon gehe ich aus. Natürlich könnte es sein, dass der Leistungssport | |
finanzielle Einbußen hinnehmen müsste, aber die Gelder fließen doch heute | |
eh fast nur in den Männerfußball. In allen anderen Sportarten kann es doch | |
fast nur besser werden. Vielleicht könnte der Sport sogar neue | |
Zuschauerschichten erschließen. Viele Frauen wollen heute doch bestimmte | |
männerdominierte Sportarten gar nicht ansehen. Wegzukommen vom | |
Zweigeschlechtermodell wäre ein gesellschaftlicher Fortschritt, der auch | |
vom Publikum honoriert werden könnte. | |
Wie wird der Leistungssport der Zukunft aussehen? | |
Die Sportkultur wird sich grundsätzlich wandeln müssen. Eine stärkere | |
Flexibilisierung von Geschlechtern wird sich durchsetzen. In der Konsequenz | |
wird der Sport nach neuen Werten suchen müssen. Bislang wird die Bedeutung | |
von Zusammenarbeit und Teamwork oft unterschlagen, weil sie nicht in unsere | |
spätkapitalistische, auf das Individuum konzentrierte Rhetorik passt. Heute | |
ist doch der Zweite in der öffentlichen Wahrnehmung schon der erste | |
Verlierer. Das wird nicht so bleiben können. | |
Und wie lange wird es dauern, bis wir das erleben? | |
Das wird noch länger dauern, fürchte ich. Vielleicht wird sich der Sport | |
auch niemals komplett vom Zweigeschlechtermodell verabschieden. Das wird | |
sehr auf die einzelne Sportart ankommen. Aber in Sportarten, die nicht so | |
viel Medienpräsenz haben, könnte es schneller gehen. | |
28 May 2015 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Winkler | |
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