| # taz.de -- Sextest in der Leichtathletik: XY ungelöst | |
| > Es müssen nicht immer Dopingmittel sein, mit denen sich Athleten einen | |
| > Vorteil verschaffen. Manchmal rennt eine Sie einfach nur schnell, weil | |
| > sie ein Er ist | |
| Bild: Auch die Boulevardpresse in Südafrika beschäftigt sich mit der Geschlec… | |
| XY ungelöst | |
| VON ERIK EGGERS UND MARKUS VÖLKER | |
| Bisweilen tauchen sie in der Leichtathletik auf, Frauen, die wie Männer | |
| aussehen, die besonders muskulös sind, flachbrüstig, mit tiefer Stimme | |
| sprechen und auch vom Habitus her besonders maskulin wirken. Nun muss das | |
| alles nichts heißen, schließlich ist der Phänotyp, also das Aussehen, das | |
| eine, und der Genotyp oder Karyotyp, also die Zusammensetzung der | |
| geschlechtsbestimmenden Chromosomen - normalerweise XX und XY -, das | |
| andere. Doch wenn so eine männliche Frau, wie aus dem Nichts kommend, | |
| plötzlich allen davonrennt, wie jetzt in Berlin beim Lauf über 800 Meter | |
| geschehen, dann kommen Zweifel auf. Dann will man wissen, welcher Karyotyp | |
| sich hinter dem Phänotyp verbirgt. Diesmal geht es um die Südafrikanerin | |
| Caster Semenya. "Ist diese Weltmeisterin ein Mann?", fragte nicht nur die | |
| Bild-Zeitung, sondern die gesamte Welt der Leichtathletik. | |
| Der Weltverband IAAF hatte sich die Frage auch schon gestellt und | |
| beschlossen, Semenya einem Geschlechtstest zu unterziehen. Bevor dieser | |
| Test da sei, könne man ihr die Teilnahme an dem Finale nicht verwehren, | |
| erklärte ein IAAF-Sprecher. Der Pressekonferenz blieb die Südafrikanerin | |
| fern. Man wollte sie schützen. Die Zurückhaltung empfiehlt sich bei diesem | |
| heiklen Thema. Manch einer erinnert sich noch an den Fall der | |
| 800-Meter-Läuferin Santhi Soundarajan, die bei den Asienspielen 2006 Silber | |
| gewonnen hatte. Die Inderin wurde zu ihrem Entsetzen nach einem Sextest als | |
| Mann eingestuft. Soundarajan versuchte daraufhin, sich das Leben zu nehmen. | |
| Die Geschichte der Leichtathletik ist gespickt mit derartigen Fällen. 1932 | |
| sprintete die Polin Stanislawa Walasiewicz zu Olympiagold über 100 Meter, | |
| 1936 noch einmal zu Silber. Erst 1980 entpuppte sie sich als Mann, als sie | |
| nach ihrer Ermordung obduziert wurde. Der vierte Platz der deutschen | |
| Hochspringerin Dora Rathjen bei den Olympischen Spielen 1936 ist aus den | |
| Annalen gelöscht. Rathjen wurde 1938, als sie von der EM zurückkehrte, als | |
| Mann enttarnt. Die Hebamme hatte Rathjen als Mädchen eingetragen, weil der | |
| Vater sich so sehr ein Mädchen gewünscht hatte. | |
| Die größte Debatte zu diesem Thema entbrannte in den 60er-Jahren auf dem | |
| Höhepunkt des Kalten Krieges. Die beiden russischen Leichtathletinnen | |
| Tamara und Irina Press wurden damals als "Press Brothers" verspottet, weil | |
| sie Muskeln wie Männer aufwiesen. Sie wurden verdächtigt, Zwitter zu sein. | |
| Beide hatten zahlreiche Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen 1960 und | |
| 1964 sowie bei Europameisterschaften gewonnen. Vor der EM 1966 in Budapest | |
| verschwanden sie plötzlich aus der Szene - als sie erfuhren, dass die IAAF | |
| Geschlechtstests vornehmen würde. Auch die polnische 100-Meter-Sprinterin | |
| Eva Klobukowska wurde, ebenfalls als Mann enttarnt, vom Wettkampfsport | |
| ausgeschlossen. | |
| Bereits 1968 wurde in der Zeitschrift Leibeserziehung gefordert, "eine für | |
| Sportlerinnen zumutbare, taktvolle Form" der Geschlechtsuntersuchung zu | |
| finden - ein ethisches Postulat, das bis heute aktuell ist. Zwar wird heute | |
| nicht mehr wie einst eine optische Überprüfung durchgeführt, auf die die | |
| britische Olympiasiegerin im Fünfkampf von 1972, Mary Peters, als "die | |
| härteste und demütigendste Erfahrung meines Lebens" zurückblickte. Doch | |
| auch die Gentests, die 1999, bis dahin bei Olympischen Spielen | |
| obligatorisch, vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) abgeschafft | |
| wurden, waren umstritten. Einerseits stigmatisierten sie die "enttarnten" | |
| Frauen als Abnormale und Betrüger, wie die Kölner Soziologin Ilse | |
| Hartmann-Tews konstatiert. "Aber auch die Genetiker und Endokrinologen | |
| kritisierten den Test angesichts seiner fragwürdigen Validität." Die hohen | |
| Kosten des Gentests spielten bei der Abschaffung ebenfalls eine Rolle. | |
| Seitdem wird nur in Einzelfällen getestet - so wie in dem Fall Semenya. | |
| Nun ist es gar nicht so einfach, im Zweifelsfall zu sagen, ob es sich um | |
| ein Männlein oder ein Weiblein handelt: Echte Zwitter, also Menschen mit | |
| äußeren Merkmalen beider Geschlechter, sind rar. Häufiger als diese | |
| Hermaphroditen kommen stufenlose Übergänge vor; es gibt den sogenannten | |
| echten Hermaphroditismus und den Pseudohermaphroditismus, wobei das | |
| chromosomale Geschlecht nicht mit den äußeren Geschlechtsmerkmalen | |
| übereinstimmt - so wie offenbar bei der polnischen Weltklassesprinterin | |
| Walasiewicz: Obwohl sie mit weiblichen Geschlechtsorganen ausgestattet war, | |
| lagen Hoden in ihrer Bauchhöhle. Zudem sollen rund 80.000 Männer in | |
| Deutschland leben, die neben dem XY-Chromosomenpaar ein weiteres | |
| X-Chromosom aufweisen - das sogenannte Kinefelter-Syndrom. Männer können | |
| auch einen XYY-Chromosomensatz haben. Beim Ullrich-Turner-Syndrom haben | |
| Frauen nur ein X-Chromosom. Beim Swyer-Syndrom erscheint ein phänotypischer | |
| Mann (XY) aufgrund einer Testosteronsynthesestörung als Frau. Damit nicht | |
| genug, sind auch die Varianten XXYY, XXXY oder Poly-X-Syndrome (XXXX) | |
| möglich. Die wenigsten Betroffenen wissen allerdings von diesen Anomalien. | |
| Angesichts der Fülle von Möglichkeiten ist es verständlich, dass der | |
| Sextest im Fall der südafrikanischen Läuferin länger dauern soll. Die IAAF | |
| spricht von Wochen bis Monaten. | |
| Groß war auch die Verwirrung, als das Internationale Olympische Komitee | |
| erstmals Transsexuelle zu den Spielen zugelassen hatte. Das geschah im | |
| Jahre 2004. Die Novelle besagte nichts anderes, als dass Athleten, die | |
| früher Männer waren, nun im Wettbewerb der Frauen starten dürfen, weil sie | |
| sich als solche fühlen. Und dass Männer, die früher Frauen waren, beim | |
| starken Geschlecht mitmischen können. Drei Voraussetzungen müssen | |
| allerdings erfüllt sein, damit der Transexuelle auch wirklich an den Start | |
| gehen darf: Die Geschlechtsumwandlung muss abgeschlossen sein; sie muss von | |
| der zuständigen Behörde des Landes anerkannt sein; und die Transsexuellen | |
| müssen sich einer zweijährigen Hormonbehandlung nach der Operation | |
| unterzogen haben. Es ist gut möglich, dass in Berlin eine Frau um Medaillen | |
| kämpfte, die ein XY-Chromosomenpaar trug - und nicht Caster Semenya hieß. | |
| Damit nicht genug, sind auch die Varianten XXYY, XXXY oder Poly-X-Syndrome | |
| (XXXX) möglich | |
| 22 Aug 2009 | |
| ## AUTOREN | |
| E. Eggers | |
| M. Völker | |
| ## TAGS | |
| Leichtathletik | |
| Fußball | |
| Intersexualität | |
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