# taz.de -- Der Fall Caster Semenya: Sport ist nicht gerecht | |
> Caster Semenya kehrt ins Berliner Olympiastadion zurück. Dort begann ihre | |
> Leidensgeschichte: Sie gewann den WM-Titel – und ihr Geschlecht wurde in | |
> Zweifel gezogen. | |
Bild: Caster Semenya bei den Savo Games in Finnland im Juli 2010. | |
Es ist jetzt genau ein Jahr her: Caster Semenya läuft im 800-Meter-Finale | |
der Frauen im Berliner Olympiastadion als Erste ins Ziel und holt sich den | |
Weltmeistertitel. Ein Sieg, der für viele nicht nur überraschend kommt, | |
sondern auch skeptisch beäugt wird. Sie darf nach ihrem Rennen nicht mal | |
ihre Ehrenrunde zu Ende drehen, sondern wird vorher von der Bahn gewinkt | |
und sieht sich plötzlich mit Fragen konfrontiert, auf die sie nicht | |
vorbereitet ist: Was sind Sie denn nun - Mann oder Frau? | |
Das vermeintlich männliche Aussehen der Südafrikanerin und verschiedene | |
andere Faktoren hatten schon kurz vor dem Finale Stimmen aufkommen lassen, | |
die eine "gender verification" - eine Geschlechtsuntersuchung - forderten. | |
Dem folgte der Leichtathletik-Weltverband (IAAF) und musste dann überrascht | |
feststellen, dass eine Geschlechtsuntersuchung aufwendiger ist als gedacht. | |
Denn man wollte ein aussagekräftiges, möglichst verlässliches Ergebnis, und | |
das ergibt sich nicht allein durch einen Chromosomentest - es erforderte | |
zusätzlich eine Analyse der Geschlechtsteile, des Hormonstatus und ein | |
psychologisches Gutachten. | |
Die Untersuchungen zogen sich hin. Lange. Auffallend lang. Die IAAF hatte | |
offenbar die sportpolitische Bedeutung der medizinischen Fragestellung | |
erkannt. Jetzt scheute man sich vor der Entscheidung, die ein so | |
beispielhafter Fall benötigte. Statt einer Woche dauerten die | |
Untersuchungen elf Monate - bis zum 6. Juli 2010, als die IAAF meldete, | |
dass Semenya ab sofort wieder startberechtigt sei. Von der Veröffentlichung | |
der medizinischen Ergebnisse keine Spur - man wolle sie vertraulich | |
behandeln. Na immerhin. | |
Dass man Semenyas Geschlecht untersuchen müsse, hat sich Leonard Chuene, | |
der Präsident des südafrikanischen Leichtathletik-Verbands (ASA), schon vor | |
der WM gedacht und die Untersuchungen prompt durchgeführt - allerdings ohne | |
Absprache mit dem Weltverband, geschweige denn mit dem Einverständnis der | |
Athletin. Warum auch, die Ergebnisse wollte er sowieso für sich behalten. | |
Semenya hingegen hatte geglaubt, es handele sich um normale | |
Dopingkontrollen. Mit dem medizinischen Bericht traf auch ein Rat vom | |
Verbandsarzt bei Chuene ein: Lassen Sie sie besser nicht bei der WM | |
starten. | |
Warum er die Ergebnisse für sich behielt, Semenya aber trotzdem starten | |
ließ? "Um die Athletin zu schützen", beteuerte Chuene, nachdem seine | |
Voruntersuchungen aufgeflogen waren. Doch sein eigener Kommunikationschef | |
musste zugeben: "Warum hätten wir sie am Start in Berlin hindern sollen? | |
Unsere Aufgabe war es, mit Medaillen zurückzukommen. Genau das haben wir | |
getan", sagte Phiwe Tsholetsane und bestätigte damit, was dem Verband | |
vorgeworfen wird: dass er auf Medaillen scharf, die seelische | |
Unversehrtheit von Semenya ihm aber egal war. "Und wenn da irgendwo noch | |
andere Casters herumlaufen, werden wir die genauso an den Start gehen | |
lassen", fügte Tsholetsane hinzu. | |
Peinlich für Leonard Chuene: Erst beteuert er, gänzlich hinter seiner | |
Athletin zu stehen, und wirft dem IAAF wegen der Geschlechtsuntersuchung | |
Rassismus vor. Dann kommt heraus, dass er selbst der Erste war, der eine | |
solche Untersuchung anleierte. Schließlich muss Chuene auf Drängen des | |
südafrikanischen Sportministers Gert Oosthuizen sein Amt als | |
Verbandspräsident aufgeben. Auch Semenyas damaliger Trainer, Wilfred | |
Daniels, tritt zurück und begründet den Schritt mit seinem schlechten | |
Gewissen. | |
Es ist ein Trümmerfeld entstanden, nicht nur im professionellen Umfeld der | |
Athletin, sondern auch im privaten. Elf Monate Sperre und die weltweite | |
Diskussion über ihr Geschlecht sind hartes Brot für einen jungen Menschen. | |
Trotzdem - oder gerade deswegen - verzichtet Semenya auf eine | |
Schadenersatzklage. "Ich freue mich einfach, wieder laufen zu dürfen", sagt | |
die 19-Jährige. | |
Das tut sie. Seit der Aufhebung ihrer Sperre ist sie bei zwei | |
Leichtathletik-Meetings in Finnland angetreten. Sie hat beide Rennen | |
gewonnen, ist aber mit 2:04,22 und 2:02,41 Minuten deutlich unter ihrer | |
Bestzeit aus Berlin (1:55,45) geblieben. Doch wird es das letzte Wort in | |
der Gender-Frage gewesen sein? Wie wird "Frauen"- und "Männerkonkurrenz" in | |
Zukunft definiert? Leonard Chuene hat seinem Nachfolger und der IAAF kein | |
leichtes Erbe hinterlassen, denn die Angelegenheit ist mit einem Dopingfall | |
nicht zu vergleichen. | |
Die Sensibilität des Themas ist enorm, die Diskussion stellt die ganze | |
Identität der Athletin infrage. Das darf nicht nochmal passieren, sagt auch | |
Thomas Bach, Vizepräsident des IOC. Deshalb muss eine Antwort her. | |
Am Sonntag kehrt sie für das Istaf dahin zurück, wo alles seinen Lauf nahm | |
- ins Berliner Olympiastadion. Vielleicht gewinnt sie wieder. Und | |
vielleicht darf sie diesmal die Ehrenrunde zu Ende drehen. | |
20 Aug 2010 | |
## AUTOREN | |
Juliane Bender | |
## TAGS | |
Intersexualität | |
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