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# taz.de -- Kampf um Aleppo: Gewalt am Rande des Krieges
> Aleppo ist zum Zentrum des Krieges geworden und die Kriminalität dort
> nimmt zu. Die Rebellen versuchen, eine neue Autorität aufzubauen, aber
> ihr Ruf ist schlecht.
Bild: Bis Mitte dieses Jahres blieb Aleppo weitgehend von Gewalt verschont. Jet…
ALEPPO taz | Die Männer kamen am Morgen, sagt Abu Ahmed. Sie hätten ihn
bedroht, erpresst. Abu Ahmed hatte vor, zwei Maschinen aus seinem Betrieb
in Aleppo zu verkaufen. Als er sie abbauen wollte, kamen diese Männer. Sie
haben ihre Waffen gezogen: Entweder gibt er ihnen die Hälfte der Einnahmen,
oder die Maschinen bleiben in der Plastiktütenfabrik.
Sie haben sich als Kämpfer der Freien Syrischen Armee, der FSA, ausgegeben.
Vielleicht stimmte das, was sie behaupteten. Seit einiger Zeit mehren sich
Berichte, dass Aufständische ihre ungewohnte Macht missbrauchen und zu
neuen Peinigern werden. Gut möglich ist aber auch, dass es einfache
Kriminelle waren, Trittbrettfahrer des Krieges, die vom Chaos profitieren
wollen.
Diebstahl, Raub und Entführungen nahmen in Aleppo zu, lange bevor die
Aufständischen in die Stadt vorgerückt sind. Im Kampf um ihr Überleben
fehlten der Regierung immer stärker die Kapazitäten, sich auch noch um
Alltagskriminalität zu kümmern. Seitdem die Kämpfer hier sind, ist es
schlimmer geworden, klagen viele Einwohner. Die Rebellen hatten nie den
vollen Rückhalt der Aleppiner Bevölkerung. Jetzt strengen sie sich an, die
Menschen auf ihre Seite zu ziehen: Zwischen Luftangriffen und
Straßenschlachten versuchen sie, die Sicherheit im Kriegsalltag
wiederherzustellen.
In einem verlassenen Apartmenthaus haben die Aufständischen eine
Polizeistation eröffnet. „Revolutionäre Sicherheitskräfte“ nennen sie si…
Männer und Frauen stehen Schlange; sie diskutieren, klagen, hoffen auf
lange verwehrte Gerechtigkeit. Ein Junge mit einer Kalaschnikow schlängelt
sich durch die Reihen in ein Büro. „Beschwerdestelle“ steht an der Tür. In
dem verrauchten Raum sitzt Abu Ahmed und will seine Erpresser zur Anzeige
bringen.
## Hundert Fälle jeden Tag
Früher, als Präsident Baschar al-Assad das Land noch eisern unter Kontrolle
hielt, musste man erst Klinken putzen, mit den wichtigen Leuten sprechen,
sie von seinem Fall überzeugen und schließlich die Beamten schmieren, ehe
eine Anzeige überhaupt angenommen wurde, erzählt er. „Wasta“ ist der
arabische Begriff für dieses System aus Beziehungen und persönlichem
Einfluss.
Jetzt könne man einfach in dieses Büro kommen und die Straftat melden. „Ich
fühle mich, als wäre eine neue Ära angebrochen“, sagt Abu Ahmed. Mahmud
Abrar, früher Assistenzchirurg, heute Rebellenpolizist, nimmt die Anzeige
entgegen. Hundert Fälle bekomme er jeden Tag, sagt er, meist Diebstähle.
„Beschwerden gegen die Freie Syrische Armee gilt mein Hauptinteresse.“ Und
davon gebe es einige. Häufig seien die Täter gewöhnliche Verbrecher, die
aber als Mitglieder der FSA auftreten, sagt Abrar.
Das macht es den Rebellen schwerer, diesen Krieg zu gewinnen, bei dem es
nicht nur auf militärische Erfolge ankommt. „Wir brauchen die Menschen auf
unsere Seite, nicht wütend auf uns.“
In Aleppo haben die Aufständischen ohnehin ein Imageproblem. Die meisten
der Kämpfer kommen vom Land, sind sunnitisch, konservativ, verarmt. Aleppo,
Syriens zweitgrößte Stadt und wirtschaftliches Zentrum, hatte zu viel zu
verlieren, um von sich aus gegen Präsident Baschar al-Assad zu rebellieren.
Bis Mitte dieses Jahres blieb die Stadt weitgehend von Gewalt verschont.
Jetzt ist sie das Zentrum des Krieges. Viele Bewohner geben den Rebellen
dafür die Schuld. Zudem leben hier viele Christen, die sich angesichts der
zunehmenden islamischen Radikalisierung der Opposition vor der Zeit nach
Assad fürchten.
Nachdem der Fabrikbesitzer Abu Ahmed seinen Fall vorgetragen hat, füllt
Rebellenpolizist Abrar ein schlecht kopiertes Formular aus. Es ist die
Autorisierung für eine Einheit der Rebellen, die Erpresser zu verfolgen.
Abu Ahmed geht mit dem Papier in ein Büro auf der anderen Seite des
Gebäudes. An einem Schreibtisch vor einem goldenen Vorhang und zwischen
Plastikblumen sitzt ein Mann, der noch die Uniform der alten Machthaber
trägt: Zeki Ali Lule, der Chef der Rebellenpolizeistelle.
Er zeichnet das Formular für Abu Ahmed ab. Lule war 35 Jahre lang in der
Armee, hat es bis zum Oberst gebracht. Sein Schulterabzeichen – drei Sterne
und die schwarzweißrote Flagge der Regierung – stammt noch aus dieser Zeit.
Er hat die Seiten gewechselt und die Macht behalten, wie viele in der
Opposition. Erst Mitte des Jahres ist er übergelaufen. „Die Revolution kam
spät nach Aleppo, aber ich habe mich lange auf diesen Tag vorbereitet“,
sagt er. Den spät Desertierten schlägt in den Reihen der Opposition wenig
Vertrauen entgegen.
## Hoheit in der Luft
Die Aufständischen halten derzeit rund zwei Drittel von Aleppo. Einen Tag
gewinnen sie ein paar Straßen, am nächsten Tag verlieren sie sie wieder.
Auch die Regierung kann keine entscheidenden Siege erzielen. Nur in der
Luft hat sie noch die Hoheit. Täglich beschießt sie die Wohnviertel mit
Kampfjets und Helikoptern. Aber auch diese Vormacht scheint zu bröckeln.
Seit Kurzem kursieren Videos, die von den Rebellen abgefeuerte
Boden-Luft-Raketen zeigen. In den vergangenen Wochen haben sie mindestens
einen Helikopter und ein Flugzeug zerstört. Das könnte den entscheidenden
Ausschlag zugunsten der Opposition geben. Ob mit ihrem Sieg in Aleppo Ruhe
einkehren wird, hängt allerdings davon ab, wie sie den Übergang vom
militärischem Durchbruch hin zu ziviler Sicherheit bewältigen.
Die Polizeistation ist ein erster Schritt zu einem geordneten Neuanfang.
„Es gibt viele bewaffnete Gruppen in der Stadt“, sagt Polizeichef Lule.
„Das ist gefährlich, weil es das Bild der Freien Syrischen Armee verzerrt.“
Lule versucht, Struktur in die lose organisierten Einheiten der
Aufständischen zu bringen. Jedem Checkpoint in der Stadt ist jetzt ein
verantwortlicher Kommandeur zugewiesen. Er lässt sie in Polizeiarbeit
ausbilden, und gerade werden Uniformen entworfen. Wenn die Rebellen
Gefangene zu ihm bringen, überstellt er sie an ein Gericht.
In einem leer stehenden Neubau nahe der Front sind Anwälte, Richter und
islamische Gelehrte zusammengekommen, um ein zentrales Gericht aufzubauen.
Sie diskutieren, wollen die Prinzipien der provisorischen Rechtsprechung
festlegen. Jetzt, in Zeiten des Krieges, gelte die Scharia, sagt Abu
Ibrahim, einer der Richter. Religiöses Recht sei einfacher anzuwenden als
ziviles. „Nur Verräter werden exekutiert.“ Ist Assad einmal gefallen,
sollen Wahlen über die künftigen Grundlagen der Rechtsprechung entscheiden.
Sie wollen das System auf alle Bezirke von Aleppo ausweiten, die in der
Hand der Opposition sind. Es sind nicht nur die Straftaten, die hier
verhandelt werden. Auch Hochzeiten und Scheidungen sollen hier stattfinden.
Das Leben geht weiter, die Bevölkerung braucht eine Autorität, an die sie
sich wenden kann. Abu Ibrahim ist besorgt. Er glaubt, dass die FSA die
Anwohner verschreckt. „Wir brauchen eine Polizei“, sagt der Richter. „Die
Menschen verstehen nicht, dass sich Soldaten um ihre Sicherheit kümmern
sollen.“
## Folter und Exekutionen
Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Es gibt keine Trennung zwischen
Kämpfern und zivilen Sicherheitskräften. Die Polizeistelle ist bisher nicht
mehr als ein Mittler zwischen der Bevölkerung und der FSA.
In Abu Ibrahims Gericht gibt es ein paar Zellen für Gefangene, aber die
Kämpfer bringen sie nur vereinzelt zu ihm – Anfang des Monats waren es
gerade zwei.
Zudem hat die FSA selbst in Stadtteilen, die nicht mehr unter der Kontrolle
der Regierung sind, keine uneingeschränkte Autorität. Auch kurdische
Gruppen halten manche Viertel und versuchen, sich aus dem Kampf
herauszuhalten oder daraus Profit zu schlagen, ohne sich auf eine der
beiden Seiten zu stellen.
Außerdem ist „Freie Syrische Armee“ eher ein Sammelbegriff für
unterschiedliche Strömungen von bewaffneten Aufständischen als der Name
eines strukturierten Verbunds. Allein in Aleppo kämpfen mindestens vier
Bataillone, die zwar militärisch kooperieren, aber in zivilen
Angelegenheiten keine einheitlichen Ansätze haben. Einzelne Bataillone
haben eigene Polizeikräfte und Gerichte, die unabhängig voneinander
arbeiten.
Manche legen ihre Gesetze streng nach der Scharia aus; manchen geben sich
säkularer. Viele scheren sich wenig um Regeln, foltern Gefangene, fällen
Urteile auf der Straße und exekutieren fernab jedes Gerichtsverfahrens.
Es ist nicht nur die eigentliche Schlacht, die ein Land im Krieg ins Chaos
zu stürzen droht. Es ist die Gewalt, die sich am Rande der Kämpfe
entwickelt; die Kriminalität, die sich ausbreitet, wenn staatliche
Strukturen implodieren; wenn es plötzlich keine Polizei mehr gibt, wo die
Menschen die Staatsgewalt früher an jeder Ecke fürchten mussten.
Die Bemühungen der Rebellenpolizisten, Richter und Anwälte könnten ein
Anzeichen dafür sein, dass Aleppo nach einem Sieg der Opposition den
Umbruch bewältigt. Wenn auch nur lokal, ein erster Schritt zu zivilen
Strukturen ist getan. Abu Ahmed, der Fabrikbesitzer, ist vom neuen System
bereits überzeugt. „Die Freie Armee ist wunderbar“, sagt er. Für ihn gibt
es jetzt, inmitten des Krieges, endlich Hoffnung auf Gerechtigkeit.
22 Nov 2012
## AUTOREN
Daniel Etter
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