# taz.de -- Kommentar Flüchtlingsproteste: Wider die guten Ratschläge | |
> Der Protest der Asylbewerber war erfolgreich. Noch nie hat der Staat der | |
> Flüchtlingsbewegung auch nur annähernd so viel Aufmerksamkeit gewidmet. | |
Bild: Wieviel hat dieses Bild bewirkt? Flüchtlingsprotest im Herbst 2012. | |
Die Kirche und der Staat, Grüne und Anarchisten: Es war eine seltsame | |
Allianz, die da in den letzten Monaten meinte, den Flüchtlingen hineinreden | |
zu müssen, wie sie zu protestieren haben. | |
Tatsächlich haben sich die streikenden Asylbewerber seit Beginn ihrer | |
Aktionen im März für Methoden entschieden, die sonst in Diktaturen üblich | |
sind. Sie nähten sich die Münder zu und schnitten sie wochenlang nicht | |
wieder auf; über Monate verweigerten sie die Nahrungsaufnahme, Hunderte | |
Kilometer marschierten sie durchs Land, seit Wochen hocken sie jetzt in der | |
Kälte auf zwei zentralen Plätzen in der Hauptstadt. | |
Man könne „nicht an die Menschenrechte appellieren, indem man sich selbst | |
verletzt“, predigte ihnen schon früh der bayerische evangelische | |
Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, dies sei „bei aller Verzweiflung | |
nicht der richtige Weg“. Die Stadt Würzburg verbot den meist iranischen | |
Asylbewerbern „zum Schutz der Öffentlichkeit“, sich mit ihren zugenähten | |
Mündern in der Innenstadt zu zeigen, scheiterte damit allerdings vor | |
Gericht. | |
Auch Linksradikale aus der Unterstützerszene hielten Abstand: Ihnen war die | |
selbstzerstörerische Disziplin der Dauerdemonstranten suspekt, sie | |
erinnerte sie an die Aktionen von fanatischen Kadern autoritärer Parteien. | |
Und ähnlich wie einige Wohlfahrtsverbände distanzierte sich die | |
Grünen-Politikerin Simone Toller „entsetzt“, als sie sich im Frühjahr | |
erstmals die Münder zunähten: Sie lehne „jedes Mittel ab, was einem selber | |
Schmerzen zufügt“, sagte Toller, denn dies mache „jeden politischen Dialog | |
für die Sache aller Flüchtlinge unmöglich“. | |
Viel falscher konnte die Frau nicht liegen. Das Gegenteil ist der Fall. | |
## Von der großen Politik beachtet | |
Am Donnerstag trafen die protestierenden Flüchtlinge in einer eigens | |
angesetzten Sitzung die Spitzen des Innenausschusses des Bundestags. | |
Eingeladen hatte sie der stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende Wolfgang | |
Bosbach. Vor zwei Wochen hatte sich der Bundestag in einer Aktuellen Stunde | |
mit ihren Forderungen befasst. Die Flüchtlinge hatten Vertreter des | |
Menschenrechtsausschusses getroffen und waren von der Staatsministerin | |
Maria Böhmer empfangen worden. | |
Was bei all dem politisch am Ende herauskommen mag, sei dahingestellt. Aber | |
fest steht jetzt schon: Noch nie hat der Staat der Flüchtlingsbewegung auch | |
nur annähernd so viel Aufmerksamkeit gewidmet. Und diese Aufmerksamkeit hat | |
sie nicht trotz, sondern wegen der selbstzerstörerischen Formen des | |
Protests bekommen. | |
Denn in Deutschland gibt es seit über 15 Jahren Selbstorganisationen von | |
Flüchtlingen. Ihre wichtigsten Forderungen sind dieselben wie die der | |
aktuell Streikenden: Keine Residenzpflicht, keine isoliertes Leben im | |
Lager, keine Sachleistungen, keine Arbeitsverbote. Von einer Abschaffung | |
dieser Bestimmungen würden über 100.000 Geduldete und Asylbewerber im Land | |
profitieren. Doch alle früheren Aktionen haben kaum jemand interessiert; | |
die Wahrnehmungsschwelle der Mainstream-Medien und der großen Politik | |
vermochten sie nie zu überschreiten. | |
## Die Erpressung der Mächtigen | |
Dass dies nun anders ist, ist schön für die Protestierenden, aber eine | |
totale Blamage für die politischen Vermittlungsinstanzen. Medien, Parteien, | |
Institutionen der Zivilgesellschaft und bestimmte Teile des Staats sind | |
auch dazu da, die Interessen gesellschaftlicher Randgruppen aufzunehmen und | |
ins Zentrum der politischen Aushandlung zu tragen. So sollen auch die | |
berücksichtigt werden, die keine Lobby haben und weit weg sind vom Staat | |
sind – dessen Gewalt aber trotzdem unterworfen sind. | |
Funktioniert dieser Mechanismus nicht, bleibt ihnen im Zweifelsfall nur | |
noch die Erpressung der Mächtigen – entweder durch Gewalt oder durch die | |
moralische Bloßstellung, die es bedeuten würde, wenn ihr Hungertod oder | |
ihre Selbstverstümmelung einfach hingenommen würde. Demokratien zeichnet | |
aus, dass niemand es nötig haben sollte, diesen Weg zu beschreiten. Die | |
protestierenden Iraner waren es aus ihrer Heimat hingegen gewohnt, so mit | |
dem Staat umgehen zu müssen. Dass sie damit auch hier richtig lagen, | |
wollten viele ihrer Kritiker nicht wahrhaben. | |
Doch damit Deutschland anfängt, sich für die Rechte von Flüchtlingen zu | |
interessieren, müssen die erst bis zum Äußersten gehen. | |
22 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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