# taz.de -- Debatte Austerität: Leider kein Weltkrieg | |
> Die Atombombe verhindert die traditionelle Krisenlösung des Kapitalismus: | |
> Krieg. Deshalb muss halb Europa unter der Sparpolitik leiden. | |
Bild: Anstehen für Jobs 1933 in New York. Die Große Depression ließ sich nur… | |
Verdammte Atombombe! Ohne diese Marginalie der Geschichte hätten wir die | |
globale Rezession schon längst hinter uns: Denn in der Vergangenheit bot | |
ein schöner Weltkrieg immer den Ausweg aus einer Weltwirtschaftskrise – am | |
unumstrittensten ist das wohl bei der Großen Depression, die sich nur durch | |
den Zweiten Weltkrieg überwinden ließ. | |
Wenn von Krieg die Rede ist, denken wir verständlicherweise zunächst an die | |
Opfer. Aus ökonomischer Perspektive jedoch sind die Millionen Toten zu | |
vernachlässigen. Was zählt, ist die Vernichtung enormer Mengen von | |
Gebäuden, Maschinen, Konsumartikeln – also von Kapital. Daraus folgt die | |
Notwendigkeit einer neuen Akkumulation. | |
Dank sei dem Wiederaufbau! Das geht so weit, dass es die im Krieg am | |
härtesten getroffenen Länder sind, die in der Nachkriegszeit die | |
spektakulärsten Wirtschaftswunder feiern können. Sie überflügeln aufgrund | |
ihrer neuen Produktionsanlagen die vom Krieg verschonten Länder. Ebendas | |
meinte der Ökonom Joseph Schumpeter, als er von der „schöpferischen | |
Zerstörung“ als kapitalistischem Grundprinzip sprach. | |
Nicht jeder Krieg allerdings ist geeignet: Der letzte im Irak etwa hat die | |
USA Milliarden Dollar gekostet, aber der US-Wirtschaft keine positiven | |
Impulse gegeben. Er führte nicht zu einer Anhebung der Produktion, es gab | |
keine Mobilmachung der gesamten Bevölkerung, er hat vor allem nicht das | |
Traumpaar jeder Kriegswirtschaft hervorgebracht: die Verbindung von | |
unbegrenzten Ausgaben – für Waffen und anderes kriegswichtiges Material – | |
auf der einen und Rationierung des Privatkonsums auf der anderen Seite. | |
## Krieg als Konjunkturspritze | |
Es ist tatsächlich der Krieg, der es den Regierungen erlaubt, das Diktat | |
der Märkte zum Teufel zu jagen. Niemand kritisiert eine Regierung, die auf | |
Sparsamkeit pfeift, wenn sie es tut, um das Vaterland zu verteidigen. | |
Aber wie gesagt – Krieg ist nicht gleich Krieg: Es müssen schon globale | |
Gemetzel sein. Und diese Idee entstand eben mit dem Kapitalismus. Der erste | |
war der „Siebenjährige Krieg“ (1756–1763), der über die Zukunft ganzer | |
Kontinente entschied; Weltkriege führte auch Napoleon, die beiden großen | |
Konflikte des vergangenen Jahrhunderts waren global. | |
Solche totalen Kriege zwischen Großmächten sind durch die Atombombe | |
unführbar geworden sind. Der Kapitalismus ist seitdem ein Gefangener. Und | |
diese Gefangenschaft wird umso quälender, je totalitärer die Diktatur der | |
Märkte ist und je unerschütterlicher der Glaube an die erlösende Kraft der | |
Austeritätspolitik wird. | |
Während des Kalten Krieges war „Realer Sozialismus“ ein sehr treffender | |
Begriff, um die geistige wie materielle Diktatur in den Staaten des | |
Warschauer Pakts zu beschreiben. Statt dessen, was der Begriff | |
„Sozialismus“ einst an Vorstellungen hervorgerufen hatte – die Morgenröt… | |
ja das Paradies –, verband man damit nun Mangelwirtschaft, Zensur und | |
Überwachungsstaat. Der „reale Sozialismus“ bot keinen Ausweg an, keine | |
Fluchtmöglichkeit. Man konnte ihn weder verändern noch sich ihm entziehen. | |
Wenn ein Volk das anders sah, brachten es die Panzer der Bruderstaaten | |
wieder auf Linie. | |
## Realer Kapitalismus | |
Heute, nachdem der „reale Sozialismus“ weggefegt worden ist und jeder | |
utopische beständig delegitimiert wird, will es die Ironie der Geschichte, | |
dass wir uns auf einmal im „realen Kapitalismus“ wiederfinden. Auch wir | |
sitzen wie Mäuse in der Falle, wir können nicht dem Spread entkommen und | |
nicht den Zinsen; es findet sich kein noch so entferntes Exil, in das uns | |
unsere Gläubiger nicht folgen würden, um uns ihre Rechnung zu präsentieren. | |
Ein Leben im Mangel: Die alten Griechen müssen ohne Renten auskommen, die | |
jungen Spanier ohne Arbeit. Auch wir werden auf Linie gebracht, wenn wir | |
rebellieren, von den „Bruderbanken“. Dass sie dazu keine Panzer brauchen, | |
sondern nur Kontrolleure, ändert nichts daran: Auch wir befinden uns im | |
Würgegriff einer totalitären Ideologie. | |
Es ist schon enorm, wie alle so tun, als glaubten sie tatsächlich an das | |
Sparen, wo es doch nur der Strick ist, an dem wir uns aufhängen dürfen. | |
Denn wenn Aberglaube darin besteht, dass man gegen alle Erfahrungswerte | |
glaubt, dann ist Vertrauen in die austerity (man muss es einfach auf | |
Englisch sagen!) dem Vertrauen gleichzusetzen, das Gläubige in Wundmale und | |
Wundertaten setzen. | |
Was Brüssel und Frankfurt heute den Ländern Südeuropas vorschreiben, ist | |
das Gleiche wie das, was Internationaler Währungsfonds und Weltbank den | |
Ländern der Dritten Welt aufoktroyiert haben. Aber die Konzepte der | |
Monetaristen haben kein Land aufblühen lassen, sondern marode, verarmte und | |
sozial brutalisierte Gesellschaften geschaffen. | |
## Blut-und-Tränen-Therapie | |
Dabei versteht jedes Kind: Ein Staat ist keine Familie. Eine Familie in | |
finanziellen Nöten kann den Gürtel enger schnallen und entkommt so | |
vielleicht ihrer Notlage. Wenn aber in einem Staat alle den Gürtel enger | |
schnallen, dann konsumiert niemand, brechen Produktion und Verkauf ebenso | |
ein wie die Steuereinnahmen des Staates – genau das, was in Griechenland | |
passiert, wo durch die Blut-und-Tränen-Therapie das Defizit nicht abgebaut | |
worden ist, sondern zugenommen hat. Und in Italien geschieht gerade das | |
Gleiche. | |
Der Ritus der austerity, zu dem wir von Deutschland und den Börsen | |
zwangsbekehrt werden sollen, entspricht den Selbstgeißelungen bei | |
mittelalterlichen Prozessionen; mit dem Unterschied, dass die Flagellanten | |
vielleicht wirklich ins Paradies einzogen (das Gegenteil kann jedenfalls | |
niemand beweisen), während wir in Italien von einer wirtschaftlichen | |
Erholung nur träumen dürfen, nicht zuletzt, weil Premier Mario Monti als | |
früherer Goldman-Sachs-Manager ein Hohepriester der Sparsamkeitsideologie | |
ist. | |
Schlimmer ist, dass auch viele auf der Linken dem Aberglauben verfallen | |
sind. Schlimmer nicht deswegen, weil sie aus ihren Träumen irgendwann unter | |
Schmerzen erwachen werden; sondern weil ihre Träume uns allen solche | |
Schmerzen bereiten. | |
Übersetzung aus dem Italienischen von Ambros Waibel | |
12 Dec 2012 | |
## AUTOREN | |
Marco D'Eramo | |
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