# taz.de -- Debatte Weihnachten: Wahnsinn Wachstum | |
> Weihnachten ist zum Symbol für den Kapitalismus geworden. Weniger wäre | |
> gerade da mehr. Doch ganz so einfach ist es nicht. | |
Bild: Auch die Occupy-Anhänger sehen dies so: „Hohe Steuern für Spitzenverd… | |
Jesus war kein Kapitalist. Logisch, denn der moderne Kapitalismus ist erst | |
1.800 Jahre nach Jesu Geburt entstanden. Trotzdem ist Weihnachten längst zu | |
einem Symbol für den Überfluss geworden, den dieser Kapitalismus | |
hervorgebracht hat. | |
Das Bundesumweltministerium hat gezählt, wie viele Gegenstände die | |
Bundesbürger im Schnitt besitzen: Es sind 10.000. Mindestens die Hälfte | |
dieser Dinge wird nie benutzt, sondern vergammelt in den Schränken und | |
verschmutzt die Umwelt. Erst bei der Herstellung, dann als Müll. | |
Da scheint sich eine simple Lösung aufzudrängen: Jeder kauft nur noch die | |
Hälfte. Dies wäre kein Verzicht, sondern Befreiung. Endlich wäre der | |
Plunder fort, den man nie anfasst. Natürlich würde unsere kapitalistische | |
Wirtschaft nicht mehr wachsen, sondern schrumpfen, wenn die Konsumenten | |
streiken. Aber was macht das schon? Die Umwelt wäre gerettet. | |
Doch so einfach ist es nicht, wie die Eurokrise zeigt. Unisono wird den | |
Krisenländern als Ausweg empfohlen: Generiert Wachstum! Der politische | |
Streit tobt nur über die Frage, wie dieses Wachstum am besten zu erzeugen | |
wäre. Kanzlerin Merkel fordert Sparprogramme, während der französische | |
Präsident Hollande eher auf Konjunkturhilfen setzt. Aber alle sind sich | |
einig: Es muss boomen im Euroland. | |
Auch ich habe mehrfach kommentiert, dass die Krisenländer Wachstum | |
benötigen. Dies hat mir viele Leserbriefe eingetragen, die darauf | |
hinwiesen: Die Welt ist endlich – da kann die Wirtschaft nicht unendlich | |
wachsen. | |
## Die Unsicherheit ist das Schlimmste | |
Stimmt genau. Und trotzdem ist es schwierig, auf Wachstum zu verzichten – | |
oder gar eine schrumpfende Wirtschaft auszuhalten. Griechenland ist ein | |
erschütterndes Beispiel: Weil sich viele Menschen kein Heizöl leisten | |
können, fällen sie die letzten Bäume. In einer Wirtschaftskrise ist die | |
Natur das erste Opfer. | |
Zudem ist schwer vorstellbar, dass die Krisenländer noch lange Demokratien | |
bleiben, wenn die Erwerbslosigkeit weiter bei 20 Prozent und die | |
Jugendarbeitslosigkeit gar bei 50 Prozent liegt. Die Armut ist dabei nicht | |
einmal das Schlimmste, obwohl schon schlimm genug – sondern die | |
Unsicherheit und Perspektivlosigkeit. Ganze Generationen werden | |
traumatisiert und dürften sich einem vermeintlichen Retter zuwenden, falls | |
nicht bald neue Arbeitsplätze entstehen. | |
Der Kapitalismus funktioniert also anders, als die Werbung suggeriert: Es | |
geht nicht um die Waren, die wir konsumieren und uns zu Weihnachten | |
schenken. Die Produkte sind nur Hilfsmittel für einen höheren Zweck. Das | |
Endziel sind die Arbeitsplätze. Wir arbeiten, um zu arbeiten. Denn nur wer | |
Arbeit hat, hat Einkommen, Sicherheit und Anerkennung. | |
Der berühmte US-Ökonom John Kenneth Galbraith hat bereits 1958 in seinem | |
Buch „The Affluent Society“ auf ein seltsames Phänomen hingewiesen: In | |
einer Wirtschaftskrise wird nie bedauert, dass viele Waren nicht entstehen, | |
weil die Fabriken nicht voll ausgelastet sind. Dieser Verlust an | |
materiellem Reichtum kümmert niemanden. Die sinkende Gütermenge ist egal. | |
Stattdessen wird nur über die Arbeitsplätze geklagt, die in der Krise | |
wegfallen. Angeblich konsumieren wir uns zu Tode – aber dies ist eine | |
falsche Wahrnehmung. Wir produzieren uns zu Tode. Das Ziel heißt | |
Vollbeschäftigung, nicht Vollkonsum. | |
## Die Ware wird zum Fetisch | |
Aber es sind nicht nur die Arbeitnehmer, die auf Wachstum drängen. Auch die | |
Sparer und Investoren wollen Rendite sehen. Zwar hat nicht jeder Deutsche | |
Vermögen, wie dem neuesten Armuts- und Reichtumsbericht wieder zu entnehmen | |
ist. Die unterste Hälfte der Bevölkerung besitzt gar nichts. Doch die obere | |
Hälfte schiebt umso größere Panik, kaum dass sich andeutet, dass die | |
Wirtschaft einbrechen könnte. Die Eurokrise ist in Deutschland noch gar | |
nicht angekommen, aber schon werden hektisch Immobilien angeschafft. | |
Erneut wird die Ware zum Fetisch. Aber anders als Karl Marx dachte, geht es | |
nicht um Gebrauchs- oder Tauschwert. Es geht um Sicherheit. Wir produzieren | |
und investieren, damit eine unbekannte Zukunft beherrschbar wirkt. | |
## Hartz-IV-Empfänger hungern nicht | |
Die Aufgabe erscheint also als unlösbar: Wir müssen uns vom Wachstum | |
verabschieden, wenn wir unsere Umwelt nicht komplett ruinieren wollen. Aber | |
jeder Wirtschaftseinbruch setzt existenzielle Ängste frei. | |
Dieses Dilemma ist nur zu überwinden, wenn die Gesellschaft nicht mehr | |
darauf setzt, dass jeder Einzelne für seine Sicherheit allein zuständig sei | |
– indem er einen Arbeitsplatz ergattert oder aber „private Vorsorge“ | |
betreibt. Denn beides erzwingt Wachstum. Die Umwelt wird also nicht durch | |
Umweltpolitik gerettet – sondern durch die richtige Sozial- und | |
Steuerpolitik. | |
Was aber muss genau passieren, damit sich die Bürger sicher fühlen? | |
„Sicherheit“ ist ein ambivalentes Konzept in reichen Gesellschaften wie der | |
Bundesrepublik. Offensichtlich geht es nicht darum, den Hungertod zu | |
vermeiden. Auch Hartz-IV-Empfänger haben genug zu essen. Trotzdem gerät die | |
Mittelschicht in Panik, sobald sie sich vorstellt, sie könnte demnächst zu | |
den Armen zählen. Denn sie weiß genau, dass sie dann ihre Würde verliert, | |
verachtet und bevormundet wird. | |
Menschen fühlen sich nur sicher, wenn niemand abstürzen kann – weil Arm und | |
Reich sowieso nicht weit auseinanderliegen. Nur dann ist Umweltschutz | |
möglich, wie weltweite Vergleichsstudien zeigen. Also liegen die egalitären | |
Skandinavier ganz vorn, während sich die polarisierten USA weit hinten | |
befinden. Für den Umweltschutz ist nicht wichtig, wie reich eine | |
Gesellschaft ist, sondern wie dieser Reichtum verteilt wird. Es mag | |
erstaunen, aber hohe Steuern für Spitzenverdiener sind aktiver | |
Umweltschutz. | |
Dies erinnert an Jesus, der seinen Jüngern immer wieder einprägte, dass | |
Reichtum keine Sicherheit schafft. So heißt es in der Bergpredigt: „Ihr | |
sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost | |
fressen.“ Jesus kannte den Kapitalismus nicht. Aber seine Gebote sind | |
trotzdem aktuell, wenn wir überleben wollen. | |
24 Dec 2012 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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