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# taz.de -- Turbulenzen in der Mittelschicht: „Schon 1930 gab es die Statuspa…
> Der Soziologe und Mittelschichts-Experte Berthold Vogel über
> Absturzängste und die „solidarische Mitte“ als historischen Ausnahmefall.
Bild: Generell orientiert sich die Mitte immer nach oben.
taz: Herr Vogel, ist der in den Medien häufig verwendete Begriff „sozial
schwach“ diffamierend?
Berthold Vogel: Ja, und auch in der Armutsforschung sind unreflektierte
Etikettierungen ein Problem. Mit Begriffen wie „Überflüssige“ oder „soz…
schwach“ wird ja auch Politik gemacht.
Haben Sie das Gefühl, dass zurzeit eher die Mittelschicht sozial
schwächelt, indem sie Ressentiments gegenüber der Unterschicht pflegt?
Die „Mittelschicht“ ist als soziales Feld ein turbulenter Raum, mit hoher
sozialer Mobilität. Geradezu dafür prädestiniert, sich bestimmter
Ressentiments zu bedienen und durch Positionen abzuheben. Die solidarische
Mitte ist eher ein historischer Ausnahmefall, der eintritt, wenn es relativ
viel zu verteilen und einen Konsens gibt, wie gesellschaftliche Reichtümer
übertragen werden können. Der deutsche Soziologe Theodor Geiger sprach
schon in den 1930er-Jahren über die „Statuspanik“ in der Mitte der
Gesellschaft.
Heißt das, der Mittelschicht geht es weniger um die Überwindung von
gesellschaftlicher Armut als um die Sicherung des bestehenden Wohlstands?
Generell orientiert sich die Mitte immer nach oben. Man hat eine bestimmte
Vorstellung von Reichtum, gutem Leben und guter Arbeit. Da ist wenig
solidarisches Augenmerk auf diejenigen, die zurückbleiben. Obwohl es
natürlich auch viel Potenzial für Solidarität gibt …
… die sich aber vor allem auf die eigene soziale Schicht konzentriert.
Trotz allem gibt es ein Bewusstsein dafür, dass man von anderen
gesellschaftlich abhängig ist. Um soziales Bewusstsein auszubilden, braucht
es aber wohlfahrtsstaatliche Rahmenbedingungen. Solidarität entsteht nicht
nur aus Güte und Barmherzigkeit einzelner.
Neben der Bereitschaft, sich für andere zu engagieren, kann man gerade in
den Debatten um Bildungspolitik die permanente Wachsamkeit beobachten, die
eigene und familiäre Position zu wahren.
Ist denn die Mitte nicht auch ganz real von Armut bedroht?
Ja, weil sich die Rahmenbedingungen verändert und prekäre
Beschäftigungsverhältnisse längst klassische Mittelschichtberufe erreicht
haben. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu sprach von den „intern
Ausgegrenzten“, die zwar in das Bildungssystem eingebunden sind, deren
Ausbildungsgrade jedoch durch die Aufwärtsentwicklung an Wert verlieren.
Soziale Abstände vergrößern sich. Von den wegfallenden Statuszusagen wie
Rente und Bildung hat die Mitte immer am meisten profitiert.
Es gibt auch einen Ruf nach mehr Staatlichkeit. Ist das ein Zeichen für das
Erstarken gesamtgesellschaftlicher Solidarität?
Das wahrscheinlich am wenigsten. Da wird eher die Verteilungsfrage
gestellt. Die, die sich oben befinden, haben sich weitgehend aus der
Finanzierung des Staates verabschiedet. Wer unten ist, wird nur als
Kostgänger wahr genommen. So wachsen Unbehagen und Ressentiments gegenüber
randständigen Gruppen. Zugleich schwinden staatliche Ressourcen, solchen
Entwicklungen entgegenzusteuern.
Hat der Staat überhaupt noch Möglichkeiten, ein solidarisches System zu
schützen, oder hat sich das Modell überlebt?
Wahrscheinlich. Aber „Staat“ hört sich immer nach einer starken zentralen
Einheit an, die es so nie gegeben hat. Deutschlands Stärke liegt in den
vielgliedrigen Strukturen der Städte und Gemeinden.
Was ist mit Steuererhöhungen? Die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit
ist auch eine steuerpolitische Frage.
Die ist natürlich unbeliebt. Es gibt ja auch sehr viel privaten Reichtum.
Diese Wohlstandskonflikte rücken die Debatte um Verteilungsgerechtigkeit in
die Mitte. Bestimmte Redeweisen und Modelle transportieren die Vorstellung
davon, wie Gesellschaft organisiert werden sollte. Neben der Teilhabe an
öffentlichen Leistungen gehören dazu Chancengerechtigkeit und ein gewisses
Maß an Sicherheit.
Wäre dann nicht dafür Sorge zu tragen, dass Druck und Unsicherheit in der
Unterschicht nicht noch verstärkt werden?
Absolut. Es gibt ja auch die diffamierende Rede über soziale Sicherheit,
dass die Gesellschaft zu bequem, zu träge wird. Doch Sicherheit ist
Voraussetzung für so etwas wie eine freie Gesellschaft, in der nicht das
Recht des Stärkeren herrscht.
In Athen wird gerade die Horrorvorstellung real, dass rechtsradikale
Gruppen, die man ganz abstrakt als „zivilgesellschaftliche Akteure“
bezeichnen könnte, in die Bereiche hineingehen, in denen sich vorher der
Staat mit seinen Sicherheitszusagen befunden hat.
Bürgerwehren, die bestimmte soziale Funktionen übernehmen. Der kritische
Punkt ist: Wie gewährleistet man soziale Sicherheit und wer ist dafür
verantwortlich?
1 Jan 2013
## AUTOREN
Antonia Herrscher
## TAGS
Mittelschicht
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