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# taz.de -- Mittelschicht in Indien: Revolution mit Mütze
> Sie ist neu, sie beruft sich auf Mahatma Gandhi und sie ist die Hoffnung
> der Mittelschicht: Die „Partei des einfachen Mannes“ in Indien kämpft
> gegen Korruption.
Bild: Mitgliedsantrag für die AAP ausfüllen: Gründungstag der Partei in Delh…
DELHI taz | Sie wollen eine Revolution. Nicht mehr und nicht weniger. Das
sagen sie alle an diesem Tag vor dem noch von den Briten erbauten Parlament
in Delhi. Sie sind zu Tausenden gekommen, um Indiens sechzig Jahre alte
Demokratie von Grund auf zu erneuern. Das ist ein großes Vorhaben.
Die Leute sind aufgeregt und reden durcheinander. Sie tragen jene kleine
weiße Baumwollmütze, die schon der Gründer der indischen Demokratie immer
auf dem Kopf trug: Mahatma Gandhi. Eigentlich war er ja längst außer Mode
gekommen, der alte, dürre Mann, der kein Fleisch aß und den Hindus den
Koran vorlas. Gandhi hatte seine Macken. Aber wenn es drauf ankommt,
besinnen sich die Inder doch wieder auf ihn. Und für die, die jetzt wieder
seine Mütze tragen, ist dies der Tag eines Neubeginns, einer demokratischen
Wende in Indien.
„Ich bin ein einfacher Mann“, steht in schwarzer Hindi-Schrift auf ihren
Mützen gedruckt. So nennt sich auch die neue Partei, die sie an diesem Tag
gründen: Aam Aadmi Partei (AAP) – die Partei des einfachen Mannes.
Die Sonne scheint. Touristen auf dem Weg zum India Gate ziehen auf den
Bürgersteigen vorbei, verwundert schauen sie herüber. Sie verstehen das
laute Hindi-Gerede von einer Bühne nicht. Alle Flugblätter und die an der
Straße aufgehängten Parolen sind auf Hindi. Für einen englischen Diskurs
ist die AAP noch zu jung. Das wird kommen, später, aber seit wann spricht
der einfache Mann in Indien englisch?
Hinter den AAP-Anhängern, die sich vor der Bühne niedergelassen haben oder
Schlange stehen, um eine Beitrittserklärung zu ergattern und auszufüllen,
steht eine alte Sonnenuhr aus dem Mittelalter in einem Park. Unter den
Palmen des Parks strecken sich Paare auf dem Rasen in der Mittagswärme aus.
Rundherum herrscht eine entspannte Atmosphäre. Doch Indiens neue Demokraten
sind nicht zum Vergnügen hier. Sie haben den Schlendrian satt. Sie fordern
Ordnung, Ehrlichkeit, Rechtsstaat. Das Ende der Korruption. Und so harmlos
das klingt – für sie wäre das eine Revolution.
## Tanwar ist ein Aufsteiger
Jai Bhagwan Tanwar opfert die Einnahmen eines Tages, um vor dem Parlament
zu stehen. Sein kleines Mobilfunkgeschäft in Delhis Vorstadt Naraina bleibt
an diesem Tag geschlossen. Im Grunde hat es Tanwar schon weit gebracht:
sein eigenes Geschäft, sein eigener Herr! Tanwar im grauen Pullover über
dem blaugestreiften Hemd und der weißen Baumwollhose ist ordentlich
gekleidet, er ist 39 Jahre alt, hat einen achtjährigen Sohn und eine
fünfjährige Tochter und versteht etwas von moderner Funktechnik. „Ich
gehöre zum einfachen Volk. Nur das einfache Volk kann die Gesellschaft
ändern“, sagt Tanwar. Genau genommen stimmt daran etwas nicht.
Das einfache Volk wären in Indien eigentlich die armen Leute auf dem Land
und in den Slums, die die große Mehrheit der Bevölkerung bilden. Rund die
Hälfte der Inder ist unterernährt, viel mehr noch leben in Armut. Sie leben
von der Hand in den Mund und haben keine Zeit, sich um Politik zu kümmern.
Tanwar dagegen führt ein verlässliches Geschäft, das ihn von Existenzsorgen
befreit. Er gehört zur neuen städtischen Mittelschicht, der in Indien 200
Millionen Menschen zugerechnet werden. Allerdings war diese Schicht bisher
berühmt für ihr Desinteresse an der Politik, bei Wahlen blieb sie den Urnen
fern.
Stattdessen entschieden die Armen die Wahlen, jene Massen auf dem Land,
welche die etablierten Parteien zu Wahlgängen mit Geschenken überhäuften
und am Wahltag mit Treckern vor die Urne karrten. Einer wie Tanwar hatte
deshalb früher vor allem Verachtung für die Demokratie übrig. Sie war ein
dreckiges Geschäft mit Stimmen, für das er sich als ordentlicher
Geschäftsmann nicht hergab. Bis er merkte, dass er nicht mehr weiterkommt.
„Die Gesetze in unserem Land sind nur für die Reichen gemacht“, schimpft
er. Er ist mit seinen Nachbarn aus der Vorstadt gekommen, die ihm
beipflichten. Sie klagen über zu hohe Strom-, Wasser- und Gaspreise, die
von den staatlichen Behörden eingenommen werden. Für sie steckt Korruption
dahinter, wenn sich ihre Stromrechnungen plötzlich verdoppeln. Die AAP ruft
deshalb in vielen Stadtteilen Delhis zum Boykott der Rechnungen auf.
## Sorge um die Erziehung der Kinder
Noch mehr Sorgen bereitet Tanwar die Erziehung seiner Kinder. So wohlhabend
ist er dann doch nicht, dass er sich für sie eine Privatschule leisten
kann. Doch aus seiner Sicht versagen die öffentlichen Schulen. „Es gibt an
ihnen keine Lehrer, und selbst wenn mal ein Lehrer erscheint, unterrichtet
er nicht“, sagt Tanwar. Es ist das übliche Klagelied. Viele internationale
Studien bestätigen die miserablen Zustände an Indiens öffentlichen Schulen,
wo viele kaum mehr lernen, als den eigenen Namen zu schreiben.
Auch hier sprechen Tanwar und seine Freunde von Korruption: Der Staat
veruntreue die Gehälter der Lehrer, die mit den Behörden verkoppelte
Lehrergewerkschaft erlaube ihnen lukrative Nebenjobs – kurz: „Der einfache
Mann bekommt keine Schulerziehung“, sagt Tanwar und meint seine Kinder.
Es sind solche Grunderkenntnisse, die die neue Mittelschicht auf die Straße
und zur AAP treiben. Schon im letzten Jahr demonstrierten Hunderttausende
gegen die Korruption, es waren die größten spontanen Kundgebungen seit der
Unabhängigkeit Indiens. Damals hieß ihr Führer Anna Hazare, ein alter
Dorfaktivist, der mehr als andere an Gandhi erinnerte.
## Alle hoffen auf Kejriwal
An seiner Seite kämpfte der ehemalige Steuerbeamte Arvind Kejriwal, der
heute die AAP führt. Hazare und Kejriwal teilen sich heute die Aufgaben:
Der eine versucht sich über die Politik zu stellen und eine soziale
Bewegung zu führen, der andere will den Erfolg in der direkten
Auseinandersetzung mit den etablierten Parteien versuchen und mit der AAP
zum ersten Mal bei den 2013 anstehenden Gouverneurswahlen in Delhi
antreten. Das wird aufgrund des Mehrheitswahlrechtes in Indien, das bei
regionalen und nationalen Wahlen gilt, auf jeden Fall schwer.
Trotzdem begleitet die AAP-Gründung seit Monaten eine landesweite Euphorie.
Zeitungen, Fernsehen und soziale Medien, die in den letzten Jahren viele
Korruptionsskandale ausgegraben haben, sehen in der neuen Partei den
einzigen Hoffnungsschimmer. Zudem weiß AAP-Führer Kejriwal die Sympathien
der Medien geschickt auszunutzen. Jeden Monat präsentiert er eine neue
Enthüllungsgeschichte: Einmal sind es die Immobiliengeschäfte der
regierenden Gandhi-Familie, zuletzt waren es die Schweizer Bankkonten der
Ambanis, der reichsten Unternehmerfamilie. Jedes Mal aber liefert die
Geschichte den Medien genug Stoff für wochenlange Recherchen und
Folgeenthüllungen, die den Ruhm Kejriwals und seiner Partei beständig
steigern.
„Kejriwal hat schon so viele Skandale ans Licht gebracht, dass selbst ein
einfacher Mann wie ich versteht, was da los ist“, sagt der 45-jährige
Straßenkehrer Naresh Kumar. Er trägt dreckige Baumwolllumpen und zählt
wirklich zum einfachsten Volk. Kumar erzählt, dass er von seinem Gehalt von
umgerechnet 150 Euro elf Familienmitglieder ernähren müsse. Er weiß auch,
dass er eigentlich ein Recht auf Sozialleistungen hat. Er bekommt aber
nichts. „Unser Land borgt sich sogar Geld bei der Weltbank, um für die
Armen zu zahlen, doch nichts kommt bei uns unten an“, sagt Kumar. Er ist
einer der seltenen Slumbewohner in Delhi, die jeden Tag die Zeitung lesen.
Deshalb kommt auch er zur AAP.
## Ein Oberst dröhnt dazu
Neben ihm steht der ehemalige Luftwaffenoberst D. C. Bhardwaj in vornehmen
weißen Kleidern und schwarzer Weste, der wahrscheinlich noch nie in einem
Slum gewesen ist. Seine Stimme dröhnt. Er spricht von Ordnung und
Ehrlichkeit und davon,dass früher alles besser war. „Kejriwal ist ein
ehrlicher Mann, alle anderen Parteien sind Banden von Kriminellen“, sagt
Bhardwaj. Er sagt laut, was die meisten Inder, die ordentlich lesen und
schreiben können, weit über die AAP hinaus denken. Zu deutlich ist, dass
alle regierenden Parteien der letzten zehn Jahre, ob auf regionaler oder
nationaler Ebene, in die Korruption verstrickt sind.
Was eigentlich zum Verzweifeln ist, kann die Begeisterung der AAP-Gründer
nicht trüben. „Wenn diese Partei erfolgreich ist, wird Indien eine
Supermacht“, frohlockt Brig Bhushan Tyagi, ein junger Rechtsanwalt aus
Delhi. Er trägt Jeans und Pullover und sprüht vor Intelligenz. Die AAP,
sagt er, werde die erste Partei der gebildeten Schichten in Indien sein.
„Wenn die Gebildeten endlich in die Politik gehen, dann kommt die
Revolution“, sagt Tyagi. Wenn, wenn. Noch hat die AAP kein einziges Mandat
gewonnen. Und selbst wenn der ganze neue Mittelstand aufsteht: Wie sollen
200 Millionen in Indien eine Wahl gegen 800 Millionen Arme gewinnen?
Aber ein Neubeginn ist es doch. Tanwar, Kumar, Bhardwaj und Tyagi sagen,
ohne gefragt zu werden, jeder für sich, dass sie ihr U-Bahn- oder Busticket
hierher selbst bezahlt haben. Weil man in Indien bisher davon ausgeht, dass
Leute auf Parteiveranstaltungen bezahlt sind. Die größte Demokratie der
Welt hat die AAP bitter nötig.
20 Dec 2012
## AUTOREN
Georg Blume
Georg Blume
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