# taz.de -- Hartz-IV-Empfänger bei Maischberger: „Ich wollte kein nettes Leb… | |
> Ralph Boes über seinen Auftritt bei Sandra Maischberger, Hungern gegen | |
> Hartz-IV-Sanktionen und eine Verfassungsklage. | |
Bild: Ralph Boes: Nach seinem Fernsehauftritt diffamierte ihn die Bildzeitung a… | |
taz: Herr Boes, in der vorletzten Woche waren Sie bei Sandra Maischberger | |
zu Gast. Talkshow-Titel: „Wer arbeitet, ist der Dumme.“ Sie wurden als | |
Hartz-IV-Empfänger vorgestellt, der sanktioniert wird, weil er angebotene | |
Jobs abgelehnt hat. Bedauern Sie Ihren Auftritt inzwischen? | |
Ralph Boes: Ich bedauere, dass ich Heinrich Alt, dem Vorstand der | |
Bundesagentur für Arbeit, nicht genug entgegengesetzt habe. Als Alt gesagt | |
hat, es gibt niemandem, der durch das Jobcenter in Obdachlosigkeit, Hunger | |
oder Krankenkassenlosigkeit getrieben wurde, hätte ich nur die | |
Rechtsfolgenbelehrung der Eingliederungsvereinbarung vorlesen müssen, die | |
jedes Jobcenter Erwerbslosen vorlegt. | |
Dann wäre die Diskussion von der persönlichen Ebene auf die Sachebene | |
gekommen. Aber als die BILD-Zeitung am Tag danach einen Shitstorm gegen | |
mich entfacht hat, habe ich gedacht: „Herr, lass Scheiße regnen, die Äcker | |
sind alle gut bestellt.“ Die Empörung bei den Hartz-IV-Betroffenen wird | |
dadurch stärker. | |
Die BILD hat Sie als „Hartz-IV-Schnorrer“ bezeichnet. Denen, die glauben, | |
Hartz-IV-Bezieher seien nicht erwerbsarbeitswillig, haben Sie alle | |
Klischees bestätigt mit ihrer Aussage, ihre Vorträge und Papiere gegen | |
Hartz IV seien schon ihre Arbeit – und deshalb könnten Sie den Job in einem | |
Callcenter nicht annehmen. | |
Arbeit muss immer sinnvoll sein, unabhängig davon, ob sie einen Erwerb | |
ermöglicht oder nicht. Meine Arbeit zurzeit ist, die Verfassungsmäßigkeit | |
von Hartz IV zu überprüfen. Das ist von hohem Allgemeininteresse, dadurch | |
bin ich mehr als voll beschäftigt. | |
Was macht Sie denn so sicher, dass Sie eine Klage gegen die | |
Hartz-IV-Sanktionen vor dem Bundesverfassungsgericht gewinnen werden? | |
Karlsruhe hat doch schon die Hartz- IV-Regelsätze im Prinzip für | |
verfassungsgemäß erklärt. | |
Natürlich ist auch das Bundesverfassungsgericht nicht ganz frei. Die | |
Richter werden ja nicht von der Richterschaft selbst, sondern von den | |
Parteien ins Bundesverfassungsgericht gewählt. Aber wenn wegen des Wesens | |
der Arbeit und der Sanktionen eine Diskussion in der Bevölkerung begänne, | |
würden die Richter genauer auf die Verfassung achten. Außerdem gibt es im | |
Hartz-IV-Regelsatzurteil einen Passus, nachdem das Existenzminimum | |
unverfügbar ist. Daran kann man bei der Frage der Rechtmäßigkeit von | |
Sanktionen anknüpfen. | |
Da würde Herr Alt sagen: Verhungern müssen Sie doch nicht, Sie bekommen ja | |
Lebensmittelgutscheine im Falle von Sanktionen. | |
Die Gutscheine sind eine Kann- keine Muss-Leistung des Amtes. Ich muss sie | |
bei demjenigen erbitten, der die Sanktionen gegen mich verhängt hat – eine | |
große Hürde, da gerade zu diesem das Vertrauen verloren ist. Zudem ist es | |
völlig unmöglich, mit so einem Essensgutschein einzukaufen. Wenn ich auf | |
dem Dorf wohne, wo mich alle kennen, bin ich damit geächtet. Die Gutscheine | |
sind eine Erniedrigung. | |
Die Jobcenter-Praxis ist oft anders als offiziell dargestellt. Meist | |
verläuft sie zuungunsten der ALG-II-Empfänger – siehe die hohe Zahl | |
erfolgreicher Klagen vor den Gerichten. Aber manchmal auch zu ihren | |
Gunsten: In Berlin werden viele von ihren Jobcentern kaum behelligt, weil | |
das Personal nicht reicht. Sie selbst haben Ihren Sachbearbeiter darauf | |
hingewiesen, sanktionieren zu müssen. | |
Ja, die haben mir das Geld einfach überwiesen, ohne mit mir zu reden. Aber | |
es ging mir nicht darum, ein nettes Leben zu haben, sondern die | |
Gesetzgebung zu ändern. Also musste ich dafür sorgen, dass die Sanktionen | |
auch verhängt werden, weil ich sonst nicht klagen kann. | |
Lösen Sie nicht den gegenteiligen Effekt aus, wenn Sie die Öffentlichkeit | |
erst darauf aufmerksam machen, dass das Hartz-IV-System in Berlin nicht so | |
funktioniert, wie es behauptet wird – und als Reaktion vielleicht mehr | |
Sachbearbeiter eingestellt und Sanktionen verhängt werden? | |
Bei mir war es sicher nicht eine Überlastung der Sachbearbeiter, dass ich | |
zunächst nicht sanktioniert wurde. Ich war ein absoluter Sonderfall. | |
Sanktionen wurden nicht verhängt, weil das Jobcenter Sorgen hatte, sich | |
selbst damit ins Knie zu schießen. Aber allgemein gilt, dass Sanktionen oft | |
verhängt werden, weil die Sachbearbeiter keine Zeit haben, genau hinzusehen | |
und überfordert sind. Daher auch die vielen Rücknahmen in den Gerichten. | |
2004 gab es noch große Demonstrationen gegen Hartz IV. Heute sind es nur | |
noch Einzelne, die protestieren – so wie Sie. Warum glauben Sie, dass mehr | |
Gegendruck folgen wird? | |
Damals waren es politische Gruppen, die demonstriert haben. Jetzt sind es | |
betroffene Menschen, die sich regen, soweit sie noch Kräfte dazu haben. Die | |
Verhältnisse sind jetzt andere. | |
Sie sind aber optimistisch? | |
Ich bin gespannt – das ist alles, was ich an der Stelle sagen kann. Ich | |
kann ja nur mein eigenes Leben dafür einsetzen. Und je schärfer das Unrecht | |
ist, das in der Öffentlichkeit vollzogen wird, desto deutlicher werden die | |
Reaktionen kommen. | |
Rechnen Sie damit, dass das Jobcenter im Januar wieder Sanktionen gegen Sie | |
verhängt? | |
Wenn das Jobcenter nicht wieder eine „Lex Boes“ macht! Wäre das der Fall, | |
müsste man die Jobcenter-Verantwortlichen eigentlich fragen, woher sie das | |
Geld nehmen, das sie mir bezahlen – ob sie es aus ihren eigenen Taschen | |
nehmen? Rechtmäßig wäre die Überweisung an mich ja nicht. | |
Gehen Sie nochmal in den Hungerstreik? | |
Ich habe nie einen Hungerstreik gemacht. Ich habe nur offen gelegt, was aus | |
der Gesetzgebung folgt. Sanktionen in Hartz IV heißen: Nichts mehr zu | |
essen, keine Krankenkasse und unter Umständen keine Wohnung. Die Sanktionen | |
gelten sofort, es gibt keine aufschiebende Wirkung bis zu einem | |
Gerichtsurteil. Und weil ich das nicht akzeptiere, mache ich es so: Wenn | |
ich kein Geld zum Essen bekomme, wird auch nichts gegessen. Wenn ich kein | |
Geld mehr für die Wohnung bekomme, wird nicht mehr gewohnt. Fertig. | |
16 Dec 2012 | |
## AUTOREN | |
Martin Reeh | |
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