# taz.de -- Debatte NPD-Verbot: Die Karlsruhe-Performance | |
> Das Bundesverfassungsgericht definiert das Grundgesetz immer wieder neu. | |
> Das verunsichert die Politik und freut die Bürger. | |
Bild: Wir sollten nicht rätseln, wie Karlsruhe über die NPD entscheiden wird,… | |
Ganz Deutschland rätselt: Wird das Bundesverfassungsgericht die NPD | |
verbieten, wenn ein entsprechender Antrag gestellt wird? | |
Ex-Verfassungsrichter Winfried Hassemer kennt die Antwort: „Das hängt von | |
den Maßstäben ab, die das Bundesverfassungsgericht erst noch entwickeln | |
muss“, sagte er jüngst in einem Interview. | |
Das ist unbefriedigend und doch präzise. Derzeit weiß niemand, welche | |
Voraussetzungen Karlsruhe für ein Parteiverbot verlangt. Eine konkrete | |
Gefahr für die Demokratie in ganz Deutschland? eine abstrakte Gefahr für | |
Minderheiten in bestimmten Regionen? Alles ist vertretbar, alles ist | |
plausibel. | |
Hassemer fasst die Ungewissheit in ein schönes Bild: „Wenn die Beratungen | |
beginnen, stößt das Verfassungsgericht gewissermaßen vom Land ab, wie ein | |
Schiff, es begibt sich auf eine Reise. Und der Witz dieser Beratungen ist, | |
dass man vorher nie genau weiß, wo man ankommen wird.“ | |
Für die Ehrlichkeit ist ihm zu danken. Amtierende Verfassungsrichter legen | |
selten offen, dass die Maßstäbe, nach denen sie urteilen, meist erst in | |
Karlsruhe gedrechselt werden. Ein Blick ins Grundgesetz genügt in der Regel | |
eben nicht, um zu wissen, wie das Gericht entscheiden wird – nicht nur bei | |
Parteiverboten. | |
## Neue Herausforderungen, neue Regeln | |
Das liegt schon am Wesen von Verfassungsbestimmungen, die meist | |
wohlklingend, aber eher unbestimmt sind. Die Richter müssen sie | |
konkretisieren, um sie anwendbar zu machen. Für neue Herausforderungen | |
erfinden sie neue Regeln wie das Grundrecht auf informationelle | |
Selbstbestimmung oder den Parlamentsvorbehalt für Bundeswehreinsätze im | |
Ausland. | |
Auch die Anwendung der Maßstäbe lässt ihnen viel Freiheit. So kann der | |
Gesetzgeber zwar in jedes Grundrecht eingreifen – durch ein Gesetz, das dem | |
Verhältnismäßigkeitsprinzip genügt. Was aber verhältnismäßig ist, das | |
bestimmen am Ende die Verfassungsrichter. | |
Gerne betonen die Karlsruher Richter, dass sie durch die bisher 130 Bände | |
eigener Urteile weitgehend gebunden seien. Doch bei Bedarf können sie | |
jederzeit ihre Rechtsprechung ändern und tun dies auch – jüngst etwa zur | |
Homo-Ehe (muss jetzt gleichgestellt werden), zur Bundeswehr im Innern (darf | |
nun doch militärische Waffen nutzen) oder zu Überhangmandaten bei der | |
Bundestagswahl (nur noch etwa 15 sind erlaubt). | |
Der Gesetzgeber hat also keine Chance, es dem Bundesverfassungsgericht | |
immer Recht zu machen. Denn er kann vorab oft einfach nicht wissen, wie die | |
Richter entscheiden werden. | |
## Dummer Gesetzgeber | |
In der Öffentlichkeit kommen die regelmäßigen Rüffel aus Karlsruhe | |
allerdings ganz anders an. Dort geht man davon aus, dass es klare Vorgaben | |
des Grundgesetzes gibt und das Verfassungsgericht dafür sorgt, dass diese | |
eingehalten werden. | |
Wenn ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt wurde, kann dies demnach nur | |
drei Ursachen haben. Entweder die Politiker haben fahrlässig nicht das | |
Grundgesetz gelesen oder sie waren zu dumm, das Grundgesetz richtig zu | |
verstehen oder – am schlimmsten – sie haben das Grundgesetz sogar bewusst | |
missachtet. | |
Die Popularität des Bundesverfassungsgerichts wird so immer wieder neu | |
gefestigt. Dass ein Gericht der Politik die Grenzen aufzeigt und sagt, wo | |
es lang geht, ist in Deutschland ein attraktives Konzept. Zwar gibt es in | |
vielen Ländern Verfassungsgerichte, aber wohl in kaum einem Staat wird der | |
kontrollierende Eingriff der Verfassungsrichter in den politischen Prozess | |
so goutiert und gefordert wie in Deutschland. | |
Vermutlich ist dies ein Indiz dafür, dass die Deutschen mit Demokratie, | |
Pluralismus und politischem Streit immer noch etwas fremdeln und sich | |
lieber an das scheinbar eherne (Verfassungs-)Recht halten. | |
## Gütesiegel „geprüft in Karlsruhe“ | |
Dabei macht das Bundesverfassungsgericht von seiner Macht durchaus | |
zurückhaltend Gebrauch. Auch in Themenfeldern, in denen Karlsruhe | |
regelmäßig interveniert, wie bei der Inneren Sicherheit oder der | |
europäischen Integration, bekommt die Politik im Kern und am Ende meist, | |
was sie will. Und das noch verbunden mit dem Gütesiegel „geprüft in | |
Karlsruhe“. | |
Das Verfassungsgericht bemüht sich auch sehr um eine lebendige Demokratie. | |
Es stärkt die Rechte des Bundestags gegenüber der Regierung, es verteidigt | |
die Rechte der Opposition gegenüber der Mehrheit, vor allem aber schützt es | |
die Rechte außerparlamentarischer Akteure vor zu viel Gängelung. | |
Seine Interventionen sind oft symbolisch und zielen auf Ausgleich. Durch | |
teils nur kleine Korrekturen an umstrittenen Gesetzen werden Kritiker | |
eingebunden. Und selbst wenn ein angegriffenes Gesetz bestätigt wird, gibt | |
Karlsruhe den politisch Unterlegenen das Gefühl, dass auch ihre Anliegen im | |
Staat ernst genommen werden. | |
## Schiedsrichter beliebter als die politischen Player | |
Das Bundesverfassungsgericht trägt also viel zur Legitimation des | |
demokratischen Systems in Deutschland bei. Allerdings oft auf Kosten der | |
politischen Akteure, die es – so die Inszenierung – an ihre | |
grundgesetzlichen Pflichten erinnern muss. Deutschland wurde so zum | |
Schiedsrichterstaat, bei dem die Schiedsrichter deutlich beliebter sind als | |
die politischen Player. | |
Faktisch ist aber auch das Bundesverfassungsgericht ein politischer Akteur, | |
ausgestattet mit Veto- und übergeordneten Gestaltungsrechten, mit der | |
Fähigkeit, den politischen Diskurs zu prägen, Themen zu setzen, Werte zu | |
definieren und Interessen zu versöhnen. | |
Wie der Bundesrat nicht nur Länderinteressen wahrt, steht das | |
Bundesverfassungsgericht nicht nur für bloße Rechtsanwendung. Vielmehr ist | |
der Bezug auf das Grundgesetz vor allem eine Performance, bei der alle | |
mitspielen. Alle lesen ins Grundgesetz hinein, was sie politisch für | |
sinnvoll halten und am Ende entscheidet das Karlsruher Gericht, wie das | |
Grundgesetz „richtig“ ausgelegt wird. Die Verfassungsrichter sind insofern | |
eine Art Rechtsdarsteller. | |
## Grundfrage der Demokratie | |
Auch die anstehende Entscheidung zum Parteiverbot geht weit über die | |
konkrete Frage hinaus, ob die NPD verboten wird oder nicht. Die Definition | |
des Maßstabs wirft grundsätzliche Fragen nach der Idee unserer Demokratie | |
auf. Sollen nur Wohlmeinende teilhaben, gibt es Toleranz für die | |
Intoleraten? Haben gefährdete Minderheiten wie Migranten einen Anspruch auf | |
Ausschaltung der politischen Klimaverschmutzer? | |
In Deutschland ist es üblich, dass solche politischen Grundentscheidungen | |
nicht zwingend im Parlament getroffen werden. Vielmehr ist auch das | |
Bundesverfassungsgericht ein akzeptiertes politisches Entscheidungsgremium | |
(solange das Gericht behauptet, dabei „Recht“ zu sprechen). | |
Die politische Debatte sollte sich daher schnell von der fruchtlosen | |
Prognose-Frage lösen, wie die Richter wohl am Ende entscheiden werden. Viel | |
wichtiger ist die Frage, wie die Richter entscheiden sollen! Darüber müssen | |
wir jetzt diskutieren. Schließlich sind die Verfassungsrichter de facto | |
unser oberstes politisches Organ. | |
1 Feb 2013 | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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