# taz.de -- 5-Sterne-Bewerbung in Italien: Wutbürger für Europa | |
> Ein Informatiker, eine Lektorin und eine Stadträtin berichten, warum sie | |
> „Grillini“ wurden. Die Zustimmung zur Bewegung wächst weiter. | |
Bild: Senator Andrea Cioffi (rechts im Bild) legt seinen Arm um M5S-Senator Ste… | |
ROM taz | Verloren steht Pierlugi Bersani, Chef der gemäßigt linken Partito | |
Democratico (PD), auf dem Flur des Abgeordnetenhauses. Seine Partei hat | |
dort, in der ersten Kammer des Parlaments, die absolute und im Senat, der | |
zweiten Kammer, immer noch die relative Mehrheit. | |
Trotzdem interessiert sich kein einziger Journalist für Bersani. | |
Stattdessen versammelte sich die Pressetraube am vergangenen Freitag, zur | |
konstituierenden Sitzung, um einen anderen: um Roberto Fico, Kandidat der | |
5-Sterne-Bewegung (M5S) für das Amt des Präsidenten des Abgeordnetenhauses. | |
Fico hat zwar keine Chance, gewählt zu werden, doch seine M5S hat alle | |
Chancen, die italienische Politik aufzumischen. | |
Demagoge, Clown, Populist, Antieuropäer: Schnell bei der Hand waren die | |
italienische und die europäische Presse mit der Erklärung für den | |
sensationellen Erfolg des Komikers Beppe Grillo. Dessen Bewegung holte bei | |
den Wahlen im Februar aus dem Stand über 25 Prozent, eroberte 109 | |
Abgeordnetenmandate und 54 Senatorensitze. | |
Der Komödiant, der mit 64 in die Politik geht, um dann im Wahlkampf die | |
One-Man-Show abzuziehen und so einen Haufen von ihm ferngesteuerter Nobodys | |
ins Parlament zu entsenden: so ungefähr sollen wir den Erfolg der | |
„Grillini“ sehen. Die Dinge waren aber nicht so einfach. | |
## Die Deutschen trennen ihr Glas | |
Grillos Erfolg begann nicht auf den Piazze von Turin, Mailand oder Rom | |
während seiner letzten Wahlkampftour. Er begann zum Beispiel in Barcelona, | |
er begann mit der Übersetzung eines Buchs über nachhaltige Entwicklung – | |
oder auch mit dem Kampf um ein denkmalgeschütztes Fabrikgebäude. | |
Der frisch gewählte M5S-Abgeordnete Diego De Lorenzis erinnert sich noch | |
gut an seinen Aufenthalt als Student in Barcelona im Jahr 2003. Hier traf | |
er Spanier, Franzosen, Briten und Deutsche – kurz: andere Europäer. „Die | |
Deutschen erzählten mir etwa, dass bei ihnen sogar nach weißem, grünem oder | |
braunem Glas sortiert wird – und wir wissen nicht mal im entferntesten, was | |
Mülltrennung ist.“ | |
Für Diego De Lorenzis, der heute mit seinen 33 Jahren genau dem | |
Altersdurchschnitt seiner Fraktion entspricht, war bald klar: „In den | |
anderen Ländern hat die Politik, hat der Staat einfach eine völlig andere | |
Aufmerksamkeit für ihre Bürger als in Italien.“ | |
## Was wollt ihr tun, damit sich Dinge ändern? | |
Der Informatiker zählt all die Ärgernisse auf, die komplizierten | |
Prozeduren, die nötig sind, um den Führerschein zu beantragen oder eine | |
Bescheinigung vom Amt zu erhalten – „das sind die wirklichen | |
Produktivitätsbremsen bei uns, nicht die Frage, ob die Pausen bei Fiat noch | |
mal um 10 Minuten verkürzt werden!“ | |
Politisch aktiv war er damals nicht. Er beließ es bei bürgerlichem | |
Engagement, ging in Kinderkrankenhäuser, mit einer Gruppe, die | |
Clowntherapie machte, setzte sich als freiwilliger Sanitäter nach | |
Büroschluss auf den Rettungswagen. „Dann sah ich Grillos Bühnenshow“, | |
berichtet er. | |
Nichts Spektakuläres – es ging zum Beispiel um Zahnbürsten, „um die Frage, | |
wieso wir die immer komplett wegwerfen, statt bloß die Köpfe | |
auszuwechseln“. Und regelmäßig stellte Grillo seinem Publikum auch die | |
Frage: Was wollt ihr tun, damit sich die Dinge ändern? | |
Selbst aktiv werden: das ist der wohl zentrale Impuls aller „Grillini“. | |
„Politik nicht mehr delegieren“, sagt De Lorenzis dazu, „unser Desinteres… | |
hat es den Politikern erlaubt, anzustellen, was immer sie wollten, und das | |
noch mit unserer Zustimmung.“ | |
## Die anderen haben keine Entwürfe | |
De Lorenzis wurde 2007 im lokalen Meet-up der Grillo-Fans in Lecce aktiv, | |
man tauschte sich auf der Internetplattform aus, traf sich einmal im Monat | |
mit 10 bis 15 Gleichgesinnten, „aber der harte Kern waren fünf, sechs | |
Personen“. Sie teilten die Utopie von einer Bürgergesellschaft, in der die | |
Menschen die Dinge, die sie angehen, selbst in die Hand nehmen, angefangen | |
bei der Gemeinde, „die ist schließlich das Haus jedes Bürgers“. | |
Dass M5S jetzt im Parlament sitzt und sogar jede Regierungsbildung | |
blockieren kann, liegt nach seiner Ansicht vor allem an Italiens | |
Politikern, die zum Generationenwechsel nicht fähig seien, die „bloß auf | |
kurzfristige Zustimmung schielen“, die keinerlei Entwurf für die Zukunft | |
des Landes in der Krise haben. | |
„Nehmen wir doch nur mal die Diskussion über die Einführung des Euro vor | |
gut zehn Jahren, da haben alle nur über den Wechselkurs Lira/Euro | |
debattiert und nicht über den tiefen Einschnitt, der damit für Italien | |
anstand“, bilanziert er – und das ist noch das Antieuropäischste, was man | |
ihm entlocken kann. | |
Völlig unaufgeregt gibt sich auch Giusy Campo, im vergangenen Februar | |
(nicht gewählte) Kandidatin für das Regionalparlament im Latium. Vor gut 30 | |
Jahren war die 55-Jährige zuletzt politisch aktiv, bei der linksradikalen | |
Democrazia Proletaria. Dann konzentrierte sie sich auf ihren Job als | |
Lektorin in einem wissenschaftlichen Verlag. | |
## Keine Grünen in Italien | |
„Auf die Grillo-Leute stieß ich, weil die Ortsgruppe in Rom Übersetzer für | |
einen Text von Lester Brown suchte, ’Plan B‘, der sich um unser verfehltes | |
Entwicklungsmodell dreht und um den Gegenentwurf eines Modells nachhaltiger | |
Entwicklung“, sagt sie. Zwei Kapitel übersetzte sie, Beppe Grillo schrieb | |
das Vorwort für die italienische Ausgabe. | |
„Hätten wir eine starke Grüne Partei in Italien gehabt“, meint die | |
Lektorin, dann wäre M5S womöglich nie entstanden. Einmal alle zwei Wochen | |
trafen sich damals, vor fünf Jahren, die Grillo-Aktivisten in Rom. Sie | |
richteten einen Arbeitskreis zur Konfliktbewältigung ein. „Wir kamen ja aus | |
den verschiedensten Ecken und auch aus völlig unterschiedlichen | |
Generationen, da krachte es manchmal gewaltig.“ | |
Guru Grillo hielt sich vor Ort immer raus. „Er hat uns nie irgendwas | |
vorgegeben“, meint Campo, „im Gegenteil, er hat die lokalen Initiativen | |
immer als Anregungen betrachtet.“ Der Punkt „Keiner darf zurückgelassen | |
werden“ im nationalen Wahlprogramm etwa stamme aus ihrem regionalen | |
Wahlprogramm. | |
## Die Kunst, selbst gegebene Regeln zu umgehen | |
Aus allen Ecken kommen heute die Grillini, darunter viele enttäuschte Linke | |
– Personen, die mit der allzu gemäßigten PD fertig sind wie „mit der auf | |
ihre überkommene Identität fixierten radikalen Linken, die immer noch mit | |
den alten Kategorien, mit der Zentralität der Arbeiterklasse und so weiter | |
hantiert“. | |
Jetzt macht sich Giusy Campo an die Arbeit, mit einer „Projektgruppe | |
Europa“ der 5-Sterne-Bewegung. „Da werden wir erst mal studieren und dann | |
Vorschläge formulieren, schließlich wird heute alles in Europa | |
entschieden“, sagt sie gelassen. | |
Genauso gelassen saß sie jüngst in einem deutsch-italienischen Seminar der | |
Europäischen Bewegung, ihr gegenüber der frühere Ministerpräsident Giuliano | |
Amato, dazu diverse Parlamentarier beider Länder. Nicht den Wahlkampfslogan | |
Grillos – „Alle ab nach Hause!“ – schleuderte sie ihnen entgegen, sie t… | |
ruhige, durchargumentierte Überlegungen zu einem radikalen Kurswechsel in | |
der EU vor. | |
## Seit zwei Jahren im Stadtrat | |
Eine gelassene, so gar nicht fanatische Wutbürgerin: das ist wohl auch die | |
passende Charakterisierung für Francesca Santarella. Die 42-Jährige hätte | |
sich noch vor wenigen Jahren so wenig wie der Informatiker oder die | |
Lektorin träumen lassen, dass sie einmal in die Politik gehen würde. Seit | |
knapp zwei Jahren sitzt sie nun im Stadtrat von Ravenna. | |
„Damals wollte die Stadtspitze ein altes, denkmalgeschütztes Fabrikgebäude | |
im Hafen von Ravenna einfach abreißen lassen“, erzählt Santarella. Ihr ging | |
der Hut hoch, aber „die Einzigen, die mir Gehör schenkten, waren die | |
Grillo-Leute hier vor Ort“. Die – von der linken PD kontrollierte – | |
Stadtverwaltung plante ein Einkaufszentrum im alten Hafen. Santarella | |
machte sich für ein Alternativmodell stark, für kulturelle Nutzung, so wie | |
auf der Zeche Zollverein in Essen oder im Innenhafen von Duisburg, die sie | |
als Exempel anführt. | |
Auch sie blickt stets nach Europa, um Positivbeispiele ausfindig zu machen, | |
und sie ärgert sich zutiefst über die „italienische Politik“: „Hier bei… | |
beherrschen sie die Kunst, selbst gegebene Regeln zu umgehen, sie nach | |
Bedarf anzupassen; das ist leider unsere Spezialität.“ Eine Spezialität, | |
gegen die ihrer Meinung nach eine breite Bürgerbewegung aufstehen muss. | |
Das wäre dann die „Revolution“, auf die der Informatiker, die Lektorin und | |
die Stadträtin hoffen: „Bürger, die die Sache selbst in die Hand nehmen“, | |
wie De Lorenzis den Traum zusammenfasst. Und Bürger, die mittlerweile | |
nichts mehr für unmöglich halten. In zwei Monaten wird der Bürgermeister | |
Roms neu gewählt. „Da wollen wir gewinnen“, sagt Campo ganz | |
selbstverständlich. In Italien lacht sie niemand mehr aus. Nach den Wahlen | |
ist M5S in den letzten Umfragen auf 30 Prozent geklettert. | |
19 Mar 2013 | |
## AUTOREN | |
Michael Braun | |
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