Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Geschlossene Heime in Deutschland: Erziehung durch Zwang
> Armumdrehen und Milchfolie vorm Fenster – Exinsassen werfen den
> geschlossenen Heimen der Haasenburg GmbH autoritäre Pädagogik vor.
Bild: Kontakt zur Außenwelt müssen sich die Insassen verdienen. Die absolute …
HAMBURG taz | Haasenburg-Heime erkennt man am gelb-grünen Anstrich. Eines,
das „Haus Müncheberg“, ist eine ehemalige Schule. Gegenüber liegen kahle
Felder und eine Bushaltestelle. Vor dem Haus spielt ein Junge mit einem
Ball. Als wir ihm zuwinken, wird er reingerufen.
Hinter den Fenstern sind schemenhaft Gestalten zu sehen. Ohne die Autos auf
dem Parkplatz könnte man denken, die Schule wäre gerade vorbei. Doch in den
früheren Klassenräumen befinden sich Einzelzimmer. Bis zu 24 junge Menschen
sind – hier vom Richter genehmigt – geschlossen untergebracht: Kinder und
Jugendliche, über die die Jugendämter sagen, für sie gäbe es keine andere
Lösung.
Ein Angehöriger von Christin* ist seit Kurzem in der Haasenburg. Sie sagt,
seitdem könne sie nicht mehr schlafen. Als sie mit dem Jungen ungestört
sprechen konnte, hätte sie Besorgniserregendes gehört. „Das Jugendamt sagt,
er wolle uns ein schlechtes Gewissen machen.“ Doch das glaube sie nicht.
Auch die Tochter von Thomas Preiß ist seit acht Monaten im Heim – weil sie
oft weglief und Drogen nahm. Nun drängt der Vater beim Jugendamt darauf,
eine andere Unterbringung im Raum Hamburg zu finden. „Die Regeln sind dort
zu streng“, sagt er, „meine Tochter darf keine eigene Meinung haben.“
Fehlverhalten wie lautes Reden oder falsche Antworten würden mit Streichung
der wöchentlichen Elterntelefonate oder des lang geplanten Urlaubs zu Hause
bestraft. Bei den wenigen erlaubten Besuchen wirke die Jugendliche „sehr
eingeschüchtert“.
## Arm auf dem Rücken verdreht
In der Haasenburg werden nicht nur Jugendliche aus Hamburg untergebracht.
Julia ist aus der Gegend von Berlin und lebte von 2006 bis 2008 in dem
Heim. Ihre Erlebnisse dokumentierte sie auf einer Website, auf der auch
kommentiert wurde. Seit vergangenem Freitag ist die Seite gesperrt. „Den
Grund kenne ich noch nicht“, sagt die junge Frau.
Motto der Haasenburg ist „Menschen statt Mauern“. Kindern und Jugendlichen,
die nie Regeln kennengelernt hätten, wolle man Halt geben. „Mauern wären
mir manchmal lieber gewesen“, kommentiert Julia. Einmal hätten sie mehrere
Betreuer auf den Boden gedrückt – und sie musste sich jedes Stück
Losgelassenwerden durch Wohlverhalten verdienen. Ein anderes Mal sei ihr
der Arm auf den Rücken verdreht worden, weil sie sich weigerte, Kniebeugen
zu machen. „Ich verstehe nicht, warum man dieses Heim nicht zumacht.“
Julia kam als 13-Jähriges Straßenkind in die Haasenburg. Über Monate sei
sie allein im Zimmer gewesen, wo sie auch lernen und essen musste. Die
Teilnahme an sozialen Aktivitäten müsse man durch Chips verdienen. Diese
erhielten die Insassen nur, wenn sie sich strikt an alle Regeln halten.
Dazu kommen vier bis sechs individuelle Verhaltenspunkte, wie etwa „Ich
achte auf meine Mimik und Gestik“. „Da reichte es, mit den Augen zu rollen,
und man bekam den Chip nicht“, erinnert Julia. Die Haasenburg schreibt, ihr
„Tokensystem“ sei verhaltenstherapeutischer Standard. Es belohne „sozial
erwünschte Verhaltensweisen“. Dazu zähle die Mimik.
„Lieber laufe ich mit einer Schandgeige herum, als noch einmal in dieses
Heim zu gehen“, sagt ihre Namensvetterin Julia Haak. Sie kam 2005 als
12-Jährige in das Heim – und erst vier Jahre später wieder raus. Am ersten
Tag wollte sie sich umschauen. „Da wurde ich angeherrscht: ’Guck
geradeaus!‘ Ich hab richtig Angst gekriegt.“ Über Monate sei sie in
Einzelbetreuung gewesen, habe nicht mit anderen Jugendlichen reden dürfen.
„Privatsphäre ist dort ein Fremdwort.“
## Betteln um Toilettengänge
Als Borderlinerin sei es sei ihr schwer gefallen, ihre Impulse zu
kontrollieren. Doch eben das werde in der ersten „Phase rot“ exzessiv
verlangt. Die ersten drei Monate habe sie nur eine Matratze im Zimmer
gehabt. „Betrat ein Erzieher das Zimmer, musste man in der Raummitte
stehen. Bin ich zu spät aufgestanden, musste ich es noch mal machen. Oder
Liegestütze und Kniebeugen.“ Für Toilettengänge habe sie klopfen und fragen
müssen: „Darf ich auf Toilette gehen?“ Einmal kam niemand und sie habe in
die Ecke pinkeln müssen. „Ich hab mich gefühlt wie ein Hund.“
Das Heim habe die Jugendlichen aggressiv gemacht. Im Zuge einer sogenannten
Antiaggressionsmaßnahme habe sie lange auf einer Fixierliege gelegen. „Und
die ganze Zeit grinst dir eine Videokamera in die Fresse.“ Der taz liegt
ein Formblatt aus dem Jahr 2008 vor, mit dem Sorgeberechtigte in Fixierung
und Videoaufnahme einwilligen. Der heute 23-jährige Renzo-Rafael Martinez
berichtet, er sei drei Tage festgeschnallt gewesen. „Zum Essen wurde mir
der Gurt an der rechten Hand gelockert.“
Martinez kam 2003 als 13-Jähriger ins Heim – für drei Jahre. Fünf Monate
sei er in einem Zimmer isoliert gewesen, dessen Fenster mit Milchfolie
abgeklebt waren. „Die haben uns alles genommen, was wir haben. Unseren
Stolz, unsere Würde unsere Meinung.“ Und: „Die Haasenburg hat uns dazu
gebracht, dass wir uns das Leben nehmen wollten.“ Er kenne eine Exinsassin,
die dies geschafft habe. Ihn plagten nach der Zeit im Heim Platzangst und
eine Sozialphobie.
Die Haasenburg äußert sich nicht zu einzelnen Jugendlichen – „aus
Datenschutzgründen“. Die Vorhaltungen der Exinsassen zur „Phase rot“ sei…
„absurd und falsch“, schreibt Sprecher Hinrich Bernzen. Auch die
Behauptungen zu Fixierung, Isolation und Kontaktsperren zu Eltern seien
nicht richtig.
Die Liegen seien nicht mehr notwendig, seit man das Konzept optimiert habe
und in Krisensituationen frühzeitig mit Kliniken zusammenarbeite, so die
Haasenburg in einer anderen Stellungnahme. Über jede
Antiaggressionsmaßnahme werde ein Protokoll angefertigt. Die
Aufsichtsbehörde habe das Recht, jederzeit Einsicht zu nehmen und zu
intervenieren.
In der Tat ist die Fixierung mit Gurten seit 2010 vom Landesjugendamt
Brandenburg untersagt, ebenso die Videoüberwachung seit November 2011.
Diese und weitere Auflagen hat das Amt verfügt, nachdem Mitarbeiter über
autoritäre Pädagogik klagten. Es erklärte Teile des Konzepts für
unzulässig, etwa die generelle Elternkontaktsperre in den ersten vier bis
sechs Wochen.
„Aber das waren eher Kaugummiauflagen“, moniert Exmitarbeiter Peter*. Post
und Telefonate der Kinder zum Beispiel dürften nicht mehr „regelhaft“
kontrolliert werden – aber im begründeten Einzelfall schon. Und es gibt
weiterhin „Begrenzungen“ am Boden oder im Stehen, bei denen Arme, Beine und
Hände umgebogen werden. Das, so berichten Jugendliche, kann sehr wehtun.
## Fehlverhalten Einzelner?
Es habe einen „Reflexionsprozess“ gegeben, meint das zuständige
Brandenburger Jugendministerium. Es sei „strukturell und konzeptionell
gesichert“, dass es nicht zu körperlichen Bestrafungen, seelischer
Verletzung oder Entwürdigung der Minderjährigen kommt, so Sprecher Stephan
Breiding. Fehlverhalten einzelner Beschäftigter könne man in keiner
Einrichtung vollständig vorbeugen. Vorwürfen ginge die Heimaufsicht
gründlich nach.
In Hamburg ist man da skeptisch. Seitdem die taz aufdeckte, dass seit 2008
49 Kinder in der Haasenburg untergebracht wurden, haben Linke und Grüne
durchgesetzt, dass die städtische Aufsichtskommission das Heim besucht.
„Dort verfolgt man seit Jahren ein Konzept, das vor allem aus Überwachen
und Strafen besteht“, kritisiert der Landes-Chef der Linken, Bela Rogalla.
Die Kommission solle auch rückwirkend überprüfen, was mit den seit 2008
eingewiesenen Jugendlichen passierte.
Vielleicht kann sie auch klären, ob die der taz vorliegenden Anweisungen
jemals gültig waren. Dort ist in einem sogenannten Neuaufnahmeordner die
„Stufe 1“ der ersten drei bis zehn Tage mit den Worten „Totale
Unterordnung“ überschrieben. Die Kinder dürfen „keinerlei Diskussion über
Maßnahmen führen“, heißt es weiter und: „Bei Fehlverhalten sofortiges
Eingreifen mit barschem Ton und Anwendung rigider Maßnahmen“.
Sprecher Bernzen erklärt, der Neuaufnahmeordner sei weder bekannt noch
gebräuchlich. Die Haasenburg arbeite jedoch eng mit Kliniken zusammen, denn
die Jugendlichen hätten nicht selten eine „klinische Vergangenheit“.
Deshalb stammten viele Fachbegriffe, die für Außenstehende „ungewohnt oder
sogar hart klingen“, aus der Verhaltenstherapie. Die Anweisung könnte der
Versuch eines Mitarbeiters aus der Anfangszeit sein, konzeptionelle
Überlegungen aus einer theoretisch-fachlichen Warte abzuleiten. Sie hätten
aber „niemals Einzug in unseren Arbeitsalltag erhalten“.
Auch das Landesjugendamt Brandenburg schreibt, es kenne das Papier nicht.
Demgegenüber beteuert Exmitarbeiter Peter, dass dieser Ordner zu Beginn
seiner Tätigkeit 2008 Gültigkeit für alle Mitarbeiter hatte. Auch eine
weitere frühere Mitarbeiterin sagt, sie kenne dieses Dokument. „Totale
Unterordnung, das stand da. Man wurde angehalten, alles streng zu machen.“
Es sei bei allem darum gegangen, den Jugendlichen zu zeigen: „Deine Aufgabe
ist es, dich zu fügen.“ Aber das habe oft mehr kaputtgemacht als genutzt.
Eine externe wissenschaftliche Evaluation des Haasenburg-Konzepts hat die
taz trotz mehrmaliger Nachfragen nicht erhalten. Das Landesjugendamt
Brandenburg sagt, es habe die Arbeit der Einrichtung nicht zu bewerten –
das sei Aufgabe der Jugendämter, die die Jugendlichen schicken. Der Träger
verweist auf fachliche Evaluation und eine „Follow-up-Studie“ des Deutschen
Jugendinstituts (DJI) und schreibt: „Die Haasenburg war Teil dieser
Untersuchung.“
Tatsächlich hat das DJI 2005 36 Jugendliche aus neun freiheitsentziehenden
Heimen interviewt und dies ein Jahr später mit 28 wiederholt. „In der
Haasenburg sind wir aber nie gewesen“, sagt Sabrina Hoops, die die
Untersuchung mit durchgeführt hat. „Ich kenne das Konzept nicht und wir
haben es auch nicht evaluiert.“
Die Studie kommt zu dem Fazit, dass in Einzelfällen ein situativer
Freiheitsentzug durchaus hilfreich sein kann. Dies sei aber kein
Blankoscheck: „Wenn Jugendlichen die Sinnhaftigkeit von Regeln nicht
adäquat vermittelt wird und sie sich nur an asymmetrischen Machtstrukturen
abkämpfen müssten, kann das nicht funktionieren.“
* Namen geändert
25 Mar 2013
## AUTOREN
Kaija Kutter
Kaija Kutter
## TAGS
Schwerpunkt Haasenburg Heime
Schwerpunkt Haasenburg Heime
geschlossene Heime
Heime
Pädagogik
Schwerpunkt Haasenburg Heime
DDR
Schwerpunkt Haasenburg Heime
Schwerpunkt Haasenburg Heime
Schwerpunkt Haasenburg Heime
Schwerpunkt Haasenburg Heime
Schwerpunkt Haasenburg Heime
Schwerpunkt Haasenburg Heime
Schwerpunkt Haasenburg Heime
Schwerpunkt Haasenburg Heime
Schwerpunkt Haasenburg Heime
Schwerpunkt Haasenburg Heime
## ARTIKEL ZUM THEMA
Haasenburg-Heime in Brandenburg: Kinder raus, zumachen
Nach dem Bericht über Misshandlungen in einem Kinderheim tritt der Leiter
der Hamburger Aufsichtskommission für geschlossene Heime zurück.
Jugendheimforscher über Haasenburg-Heime: „Das erinnert an die DDR“
Forscher Christian Sachse fordert, die Einrichtungen der Haasenburg GmbH
aufzulösen. Dort gebe es zu viele Ähnlichkeiten mit den ehemaligen
Jugendwerkhöfen.
Kinderheim in Brandenburg: Der Horror am Waldrand
Der Staat schickt Kinder und Jugendliche in Heime der Haasenburg GmbH, in
denen brutaler Drill herrscht. Die Behörden wissen von den Missständen.
Dorothee Bittscheid über geschlossene Heime: „Hohe Bestrafungslust“
Dorothee Bittscheidt hat 1980 in Hamburg die geschlossenen Heime
abgeschafft. Dass der Senat heute Kinder in die Haasenburg schickt, nennt
sie eine Katastrophe.
Geschlossene Heimunterbringung "Haasenburg": Doppeltes Spiel mit Hausregeln
Die brandenburgischen "Haasenburg"-Heime, in denen auch Hamburger
Jugendliche festgehalten werden, verwenden offenbar weiterhin von den
Behörden monierte, autoritäre Hausregeln. Offiziell sind sie längst
abgeschafft.
Parlamentarische Kontrolle: Heimkosten doch nicht geheim
Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit rügt den Senat, weil der Auskünfte zu
Haasenburg und Zirkusprojekten verweigert hat. Auch die Diakonie fordert
Transparenz.
Hamburger Jugendlicher über die Haasenburg: "Alle sagen: Scheiße, ich will hi…
Nicht am Fenster stehen, nicht aufs Bett setzen, Kontrolle selbst beim
Duschen. Ein Hamburger Jugendlicher kommt zurück aus dem Heim in
Brandenburg und berichtet.
Debatte über Aufsichtskommission: Haasenburg bleibt Thema
Bürgerschaft debattiert über umstrittenes Heim. Ob Aufsichtskommission für
geschlossene Heime wiederbelebt wird, soll der Familienausschuss
entscheiden.
Geschlossene Heime: Auf dem Bett liegen verboten
In der Haasenburg bringt Hamburg verhaltensauffällige Jugendliche unter..
Über den Inhalt der Betreuungsverträge ist nichts zu erfahren.
Kommentar Haasenburg: Spuren verwischen
In Hamburg ist seit Schwarz-Schill eine Struktur entstanden, die die
geschlossene Unterbringung eines Kindes erleichtert.
Unterbringung im Heim: Strittige Geschäftsgeheimnisse
Senat verweigert Informationen über Kosten der Haasenburg, weil das dem
Träger schaden könnte. Landesvorsitzender der Linken beruft sich auf das
Transparenzgesetz.
Geschlossene Unterbringung: Hilferufe aus der Haasenburg
Von 15 Hamburger Jugendlichen in Brandenburger Heimen stehen mindestens elf
auf der Isolations-Stufe "rot". Laut Senat gab es neun Beschwerden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.