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# taz.de -- Die Wahrheit: Ich war Hanni und Nanni
> Was wir in unserer Kindheit verpasst haben, müssen wir später nachholen,
> und dann ist es blöd, teuer und macht keinen Spaß mehr.
Bild: Der Traum vom eigenen Pferd – für 83 Prozent der „Wendy“-Leserinne…
Während meiner Schulzeit habe ich grundsätzlich nur Quark gelesen, von
Mädchen-und-Pferde-Büchern über die Hörzu bis zu Heinrich Böll. Am
nachhaltigsten ruinierten meine Psyche allerdings die Internatsgeschichten.
Als durchschnittliche Hamburger Grundschülerin in einer gemischten Klasse
habe ich mich quasi von Mädcheninternat-Geschichten ernährt, während ich
mich in der Schule langweilte.
Damals wurde in Internaten zwar noch nicht gezaubert, sondern bloß gemobbt,
obwohl das noch nicht erfunden war. Aber die tollsten Schülerinnen
integrierten gleich nach dem Mobbing mit souveränen Tricks die
Außenseiterinnen und feierten geheime Mitternachtspartys mit Limonade und
Kuchen. Außerdem gewannen sie stets in letzter Sekunde durch einen
zauberischen Zufall im Quidditch. Auch wenn es damals noch Handball genannt
wurde. Natürlich wollte ich unbedingt ins Internat, das ja wohl eine
einzige Mitternachtsparty sein würde im Vergleich zu den Ereignissen in
einer gewöhnlichen Hamburger Schule, deren Zahl 0,5 pro Jahr selten
überschritt. Erfreulicherweise waren meine Eltern aber noch bei Trost und
haben mich nicht hingelassen.
Was wir in unserer Kindheit verpasst haben, müssen wir später nachholen,
und dann ist es blöd, teuer und macht keinen Spaß mehr. Das ist eine alte
Lehre von Sigmund Freud oder von mir. Trotzdem ist es mir neulich, kaum
vierzig Jahre zu spät, gelungen, kostenlos in einem Internat zu
übernachten. Weil ich mich schon früher nicht entscheiden konnte, ob ich
lieber Hanni oder Nanni sein wollte, verwandelte ich mich jetzt im
Speisesaal nicht in eine Schülerin, sondern in eine multiple
Persönlichkeit.
Eine Lehrerin sprach mich auf Französisch an, weil sie mich für die
Begleitung der Gastschüler aus Frankreich hielt. Während ich noch
geschmeichelt lächelte, „olàlà!“ rief und das Missverständnis aufklärt…
mutierte ich nacheinander zur neuen Gesangslehrerin und zur ebenfalls noch
unbekannten Cellolehrerin. Als die Lehrer schließlich verstanden hatten,
dass ich die zur Lesung geladene Autorin war, sagten sie „Aha, die
Märchentante!“ und wandten sich Wichtigerem zu.
Den Abend verbrachte ich mit zwei aufsichtführenden Pädagogen und drei
Schülern bei der Betrachtung eines allenfalls mittelinteressanten
Fußballspiels. Die anderen 100 Schüler hatten derweil wichtige Partys zu
feiern, zu denen ich leider nicht eingeladen war. Vermutlich gab es
Limonade und geheimen Kuchen. Mein Gästezimmer im Turm war sehr einsam. Es
hatte mir nicht einmal jemand die Pyjamahosen zugenäht, was möglicherweise
daran lag, das ich gar keine dabei hatte.
Am nächsten Tag wurde ich von wohlmeinenden Lehrern mit sieben Brötchen
versorgt, die ich alle aufessen musste. Sie wissen, wie es um die
Buchbranche bestellt ist, und außerdem steht Ernährungswissenschaft nicht
auf dem Stundenplan. Meine neue Lehre besagt, dass, wer einmal im Internat
war, nie wieder Brötchen essen wird. Keine Ahnung, ob das auch schon bei
Sigmund Freud steht.
9 Apr 2013
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Internat
Kindheit
Mädchen
Sprache
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Die Wahrheit
Heizung
Alltag
August Diehl
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