| # taz.de -- Melodien aus Malmö #7: Die ESC-Wissenschaft | |
| > Das Projekt Verwissenschaftlichung des ESC schreitet nur mählich voran. | |
| > Es ist eben nicht Beethoven, Hochkultur, Stockhausen oder Kraftwerk. | |
| Bild: Nähern sich dem ESC auch wissenschaftlich: Robin Tobin und Ivan Raykoff. | |
| Wir verabreden uns in Malmös Innenstadt für den frühen Abend. Robin Tobin | |
| und Ivan Raykoff wollen später zur zweiten Generalprobe des zweiten | |
| Semifinales beim ESC, da bleibt nicht viel Zeit. Sie kommen nämlich von | |
| einer Tagung, die aktuell an der neuen Universität der Stadt im | |
| Hafenviertel stattfindet. [1][“A Transnational vision Europe? Performances, | |
| Politics and Places of the Eurovision Song Contest”] ist sie betitelt und | |
| zeigt an, was in akademischer Hinsicht längst überfällig war: Dem Phänomen | |
| des ESC jenseits des Medialen oder Vorurteilshaften zu Leibe zu rücken. | |
| Wir treffen uns an der Eisenbahnstation Triangeln, eine Art Malmöer | |
| Caffè-Latte-Viertel mit hoher Deli-Shop-Dichte und einem Neubauviertel als | |
| work in progress. Über den Boulevard kommen wir nicht, dort demonstriert | |
| eine Gruppe von etwa 150 Menschen, die den Boykott Israels beim ESC | |
| fordert, außerdem die Auflösung des israelischen Staates. | |
| Hat es doch alles schon gegeben: 1975, als der ESC im | |
| sozialdemokratisch-kulturlinksradikalen Stockholm zelebriert wurde und es | |
| tatsächlich eine Demo gegen das Festival gab. So von wegen: Schluss mit dem | |
| Kommerz, dem Kulturimperialismus, Gebt dem Volk nur gute Lieder – Gott sei | |
| Dank hat sich das alles zerbröselt – es war ja auch einfach nur albern. | |
| Tobin und Raykoff sind Wissenschaftler, der eine widmet sich in New York | |
| der Musikwissenschaft, der andere arbeitet am Department of Foreign | |
| Languages and Literatures an der Clark University bei Boston. Beide werden | |
| auf der Malmöer Konferenz ihre Beiträge abgeben – aber den besten haben sie | |
| schon hinter sich: die Publikation ihrer Monographie im Jahre 2007: „A Song | |
| For Europe“, war der bis zu diesem Jahr gründlichste Versuch, dem ESC | |
| phänomenologisch auf den Pelz zu rücken. | |
| Tobin und Raykoff, momentan in Wien als Fullbright-Stipendiaten tätig, | |
| finden den ESC aus amerikanischer Perspektive so europäisch, so | |
| interessant, so unique, dass sie als queere Wissenschaftler nicht umhin | |
| konnten, mal genauer hinzusehen. Wir haben jetzt in einem neuen | |
| italienischen Lokal Platz genommen, dem V.E.S.P.A., wobei das Auffällige | |
| ist, von einem arabischstämmigen Schweden mit norwegischem Akzent bedient | |
| zu werden, der mit einer Kollegin an der Kasse scherzt, die um den Hals ein | |
| Kettchen mit Davidstern trägt und als Dänin hörbar wird. Vermischung | |
| überall, ließe sich sagen, und beide, Raykoff wie Tobin sagen, dass der ESC | |
| eben dies sei: eine Hybridisierung und national-kulturelle Selbstbehauptung | |
| in einem. | |
| ## Die akademischen Burgen halten die Schotten hoch | |
| Das Projekt Verwissenschaftlichung des ESC schreitet indes nur mählich | |
| voran. In den akademischen Burgen hält man die Schotten hoch, über den | |
| Graben soll niemand springen können: Was musikwissenschaftlich oder | |
| poptheoretizistisch zählt, sind nicht die Phänomene, die Gedanklichkeiten | |
| rund um ein Popularevent, das zwar das größte global seiner Art ist, aber … | |
| Es ist eben nicht Beethoven, Hochkultur, Stockhausen oder Kraftwerk. | |
| In Deutschland mühen sich einige, wenige: Musikwissenschaftler wie | |
| [2][//www.musikwissenschaft.uni-mainz.de/musikwissenschaft/personen/hindric | |
| hs/hindrichs.htm:Thorsten Hindrich] von der Uni Mainz, [3][Peter Rehberg] | |
| oder [4][Irving Wolthe]r von der Universität Hannover. „In Frankreich oder | |
| Spanien gibt es niemanden, der von einer Universität zu unserem Netzwerk zu | |
| uns kommt. Dort existiert an den Akademien solche Forschung nicht“, so Ivan | |
| Raykoff. | |
| Immerhin, am historischen Seminar der Hamburger Universität, gab es neulich | |
| eine instruktive, wenngleich nach meinem Eindruck misslich gewichtete | |
| [5][Perspektive] auf den ESC – aber was ist schon Wahrheit? Was sind schon | |
| Tatsachen? Ist die Nationalisierung dessen, was der ESC in seinen | |
| Einzelperformances ist, nicht gerade der gelingende Versuch, das | |
| Nationalistische zu lindern, von seinem Gift zu entbinden? Tobin und | |
| Raykoff erzählen, dass es meist in der ESC-Stadt auch eine Konferenz zum | |
| Thema gibt – mit der wunderbaren [6][Karen Fricker] als Motor der Bewegung. | |
| Wer will, sagen beide beim Abschied, kann an dieser Bewegung der | |
| akademischen Bereicherung teilhaben. Wo nächstes Jahr der ESC stattfindet | |
| und damit mutmaßlich auch eine akademische (und gar nicht ungesellige) | |
| Konferenz, ist offen: Das weiß man ja erst nach dem Finale am Samstag. | |
| Raykoff und Tobin machen sich auf den Weg, eine Generalprobe gucken. Mich | |
| beeindruckt, dass diese Leidenschaft vor allem aus der neugierigen | |
| Tradition der USA heraus erwächst. | |
| 16 May 2013 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.mah.se/gps/esc | |
| [2] http://(http | |
| [3] http://www.utexas.edu/cola/depts/germanic/faculty/pr8267 | |
| [4] http://www.fzmw.de/2007/2007_1.pdf | |
| [5] http://netzwerk.hypotheses.org/1508 | |
| [6] http://www.eurovisionresearch.net/blog/author/karenfricker/ | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
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