# taz.de -- Oppositionelle Ungarn in Deutschland: Jenseits von Orbanistan | |
> Immer mehr Ungarn halten es unter der Orbán-Regierung nicht mehr aus und | |
> verlassen das Land. Viele kommen nach Deutschland. | |
Bild: Noch keine Einladung zum Bewerbungsgespräch, aber optimistisch: Judit Ha… | |
BERLIN/WANGEN taz | Zsófia V. rückt die Bierdose hin und her, bis sie auf | |
der Mülltonne mit dem gewölbten Deckel stehen bleibt. Die 56-jährige | |
gelernte Zahnarzthelferin ist mit ihrer Tochter und ihrer Enkelin aus | |
Ungarn hierhergezogen und trinkt seit anderthalb Monaten nach jedem Tag | |
hier, im Hof eines Berliner Mietshauses, ihr Feierabendbier.Der | |
Mülltonnendeckel ist ihr Gartentisch, für einen richtigen reicht es noch | |
nicht. Wie für vieles andere. Aber es liegt Hoffnung in der Luft. | |
„In Ungarn sind die meisten Menschen traurig. Sie haben nicht das Gefühl, | |
dass es irgendwann mal besser wird“, sagt sie. „Man spürt, dass von Orbán | |
und seinen Kumpanen alles vorgeschrieben wird. Sie bestrafen und berauben | |
die Leute, nehmen ihnen die Luft zum Atmen.“ | |
Unbezahlbar hohe Studiengebühren machten es für Jugendliche aus ärmlichen | |
Verhältnissen unmöglich, zu studieren. Für sie stelle sich die Frage nicht | |
mehr, ob sie überhaupt Lust hätten, eine Uni zu besuchen, wo rechtsextreme | |
Studenten auf die Bürotüren der Professoren inzwischen Sticker ankleben mit | |
Aufschriften wie „Juden, die Universität gehört uns, nicht Euch!“ | |
„Ich muss jetzt noch einkaufen“, sagt die Frau. „Kommen Sie mit?“ Im | |
Supermarkt zieht Zsófia ein kleines Heft hervor. „Wenn Sie Lust haben, | |
können wir einen Quiz machen. Ich sag Ihnen, was in einem Kilometer Umkreis | |
wie viel kostet. Ich trage alle Lebensmittel, die ich kaufe, in eine | |
Tabelle ein. Alles unter einem Euro, ist das neue Familienmotto! Wir jagen | |
nach Produkten, die kurz vor dem Ablaufdatum sind, wir waschen mit Soda und | |
auf die leeren Flaschen schreiben wir mit Filzstift, wo wir sie gekauft | |
haben, damit sie auch wirklich zurückgenommen werden.“ | |
Kurz darauf zeigt Zsófia in ihrer winzigen Küche einen weiteren Trick: Ein | |
Vier-Personen-Abendessen für wenige Cent. Sie rettet die Reste vom | |
gestrigen Reis, nimmt ein wenig Zwiebel, Zucchini, viele Gewürze, so auf | |
asiatische Art. Der Duft lockt ihre fünfjährige Enkelin an. Sie schmiegt | |
sich an die Großmutter. „Der Vater fehlt ihr. Er ist noch zu Hause, kann | |
nicht aus seinem Vertrag“, seufzt Zsófia. Das ist der einzige Grund, warum | |
sie manchmal traurig ist. | |
## Antisemitismus als Ablenkung | |
Als Zsófia das Essen in die Röhre geschoben hat, setzt sie sich. Sie weiß, | |
dass in Europa immer öfter von Ungarn als angehende Diktatur gesprochen | |
wird. Sie vermutet auch, dass die Fidesz-Regierung den Antisemitismus, den | |
Antiziganismus und die Homophobie absichtlich nicht eindämmt. Die Menschen | |
werden mit den Hasskampagnen der Rechten abgelenkt und achten nicht auf den | |
Ausbau der Diktatur – ist das die Strategie Orbáns?, fragt Zsófia. Ist das | |
Orbanistan? So hat der Schriftsteller György Konrád schon 2012 sein | |
Heimatland bezeichnet. | |
Momentan ist es wichtig für sie, so schnell wie möglich arbeiten zu gehen. | |
Glücklicherweise gibt es in Berlin an jeder Ecke eine Zahnarztpraxis. „Aber | |
solange mein Deutsch noch nicht so gut ist, mach ich alles: Gassi gehen, | |
putzen, abwaschen.“ Ein zu großes Opfer? „Ach was. Hier besteht wenigstens | |
die Chance, dass es besser wird.“ | |
Auch Judit Hajdinák verdient ihr Brot momentan nicht im erlernten Beruf. | |
„Ich bin jetzt Kassierin in einem italienischen Lokal“, sagt sie mit einem | |
Lächeln, das um Verzeihung bittet. Die Regieassistentin hatte im Theater | |
gearbeitet und kam vor einem Jahr nach Deutschland. In Wangen, einer | |
Vorstadt von Stuttgart, ist es die Neuigkeit des Tages, dass in den | |
Magnolienbüschen die ersten Amseln sitzen. Judit und ihr Verlobter Tamás | |
teilen sich mit zwei anderen Familien einen Vorgarten, der voller Nippes | |
ist. Ein fußbreites Idyll. | |
## Theaterstücke nur im Kopf | |
Die Untermiete im Dachgeschoss fanden sie mit viel Glück und wenig Geld, | |
die Möbel stammen vom Verschenkmarkt. „Für die Kommode und die zwei Sessel | |
haben wir 40 Euro bezahlt“, erzählt Judit. Bücher sieht man jedoch kaum. | |
„Meine Dramenbände stehen noch in Budapest, aber einige hab ich hier.“ Die | |
38-jährige zieht einen kleinen E-Book-Reader hervor. „Es sind alle drin: | |
Dostojewski, Schiller, Tschechow, Shakespeare, Hesse, Thomas Mann, | |
Stoppard. Falls ich sie irgendwann noch mal brauchen sollte.“ | |
Ihre Stuttgarter Karriere begann Judit Hajdinák als Zimmermädchen. Die | |
Probezeit konnte sie nur ertragen, weil sie im Kopf Theaterstücke über die | |
Hotelbewohner inszenierte, Tragödien oder Liebesdramen, je nachdem, was sie | |
aus den herumliegenden Sachen herauslas. | |
Bis Januar 2012 hatte sie das im Budapester Theater Újszínház gemacht. 14 | |
Jahre war sie dort Regieassistentin, unter anderem bei Jiří Menzel und | |
Anatoli Wassiljew – bis der Fidesz-Oberbürgermeister von Budapest einen | |
rechtsradikalen Schauspieler zum Direktor ernannte. Bis zuletzt konnte es | |
das Ensemble nicht fassen, weil es völlig absurd schien, dass man über den | |
Kandidaten György Dörner auch nur ein Wort verlieren würde. Denn Dörner | |
trägt auf Veranstaltungen der rechtsextremen Jobbik-Partei patriotische | |
Gedichtchen vor und hat keine Erfahrung in der Theaterleitung. | |
## "Mein Leben ging kaputt" | |
„Irgendwann merkte ich, dass ich seit dem Ausbruch des Skandals um das | |
Újszínház nichts anderes machte als zu politisieren. Und dabei ging mein | |
Leben in Budapest kaputt“, sagt Judit und schüttelt den Kopf. Dann nimmt | |
sie ihre Schlüssel und schlüpft in eine Jacke. In einer Stunde beginnt im | |
Restaurant die Nachtschicht. Vor dem Briefkasten bleibt sie kurz stehen. | |
Mit geschlossenen Augen dreht sie den Schlüssel um. Aberglaube. Judit war | |
nach einem Jahr schon so couragiert, sich um eine Stelle im Theater zu | |
bewerben. Doch der Briefkasten ist leer. | |
Zwei Tage später schnappt in Berlin-Schöneberg der leere Postkasten zu. Ein | |
enttäuschtes Seufzen. Die 36-jährige Fotografin Virág J. bewarb sich bei | |
einer staatlichen Firma, mit gutem Geld und mit fester Arbeitszeit. Jeden | |
Tag könnte sie selbst ihren Sohn aus dem Kindergarten abholen. Und nicht | |
zuletzt könnte sie an ihren Kunstprojekten arbeiten. Doch bisher hat man | |
sie nicht zum Bewerbungsgespräch eingeladen. Dann bleibt vorerst der Job | |
bei der Firma, die Familienporträts macht. Mit der einen Hand schüttelt sie | |
die Babyrassel, mit der anderen drückt sie auf den Auslöser. | |
„Das ist Sarah, meine Partnerin“, Virág deutet auf ein Porträt einer | |
blonden Frau mit fein geschnittenem Gesicht. An den Wohnzimmerwänden hängen | |
lange Reihen von ihren Familienfotos, es sind außergewöhnliche Bilder. Die | |
lesbische Fotografin hat in Ungarn vor sechs Jahren ein Kind bekommen. Der | |
Vater des strohblonden Jungen ist ein Jugendfreund von Virág. | |
## Das Gefühl zu ersticken | |
Sie gehört zu denen, die wegen dieses Ohnmachtsgefühls fortgegangen sind. | |
Sie hatte das Gefühl, zu ersticken, weil die Politik in ihre Familie drang, | |
am Sonntag beim Mittagessen dabei war, ja sogar ins Schlafzimmer kroch. Im | |
Jahr 2000 gestaltete sie eine Fotoausstellung auf dem Budapester | |
Homo-Festival. | |
2007 wurden die Teilnehmer der Regenbogenparade schon mit angeschissenen | |
Unterhosen beworfen. „Alle Schwuchteln in die Donau und die Juden | |
hinterher!“, brüllten die Nazis und spielten damit auf Massenexekutionen | |
von 1945 an. „Mich persönlich hat nie jemand in Ungarn beleidigt, weil ich | |
lesbisch bin“, erzählt Virág. Doch die Namen, Adressen und Telefonnummern | |
von Freunden wurden in den letzten Monaten auf dem Neonazi-Portal | |
kuruc.info veröffentlicht, die als „Schwuchteln ordentlich zu vermöbeln | |
sind“. | |
„Jeden Morgen, wenn ich aufwache, wische ich mir den Schweiß von der Stirn: | |
Gott sei Dank bin ich hier.“ Virág lebte von ihrem neunten bis zum | |
siebzehnten Lebensjahr mit ihren Eltern in Deutschland. Alles war okay, | |
Schule, Sprache, Freunde, Wohlstand. 1994 hätte sie die deutsche | |
Staatsbürgerschaft bekommen. Sie entschied sich für Ungarn. Sie würde dort | |
irgendetwas Wunderbares machen, dachte sie. Das Wunderbare aber blieb aus. | |
## Eine offene Gesellschaft | |
„Wir könnten, auch wenn wir uns auf den Kopf stellen würden, heute in | |
Ungarn keine Familie mehr sein.“ Sie erinnert sich genau, als sie nach der | |
Geburt aufs Standesamt ging. Sie wusste, dass niemand dazu gezwungen werden | |
kann, für die Geburtsurkunde einen Vater anzugeben. Daher wollte sie dies | |
verweigern. | |
„Dann erfinden sie halt einen“, sagte die Beamtin, ohne mit der Wimper zu | |
zucken. Die Frau forderte sie auf, einen Familiennamen zu erfinden. Sie | |
selbst schrieb einen Vornamen dazu. Dann folgte das Geburtsjahr, das | |
wiederum Virág vorschlagen musste, die Standesbeamtin schrieb einen Monat | |
daneben. Virág wollte es nicht riskieren, dass ihr Sohn in diesem Land die | |
Schule besucht. | |
Auch in Berlin werde es nicht einfach sein. Das Kind kann noch nicht | |
Deutsch, hat alle Freunde verloren. „Hier kann mein Sohn wenigstens in | |
einer Gesellschaft aufwachsen, in der zählt, wer er ist und nicht, wer | |
seine Mutter ist.“ Natürlich ist er nicht der einzige Grund. „Wegen meines | |
eigenen Wohlbefindens war es wenigstens genauso wichtig, fortzugehen. | |
Nach einem halben Jahr ist es für mich immer noch eigenartig, dass ich hier | |
nicht eigenartig bin. Ich will jetzt nicht über die Reife von | |
Gesellschaften predigen, aber es sagt doch viel aus, dass ich im | |
Ungarischen bis heute für zwei Ausdrücke keine genauen Entsprechungen | |
gefunden habe – Vergangenheitsbewältigung und Mitläufer.“ | |
26 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Gabi Valaczkay | |
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