# taz.de -- Extremismusexperte über Nazi-Aussteiger: „Raus allein reicht nic… | |
> Zwei Angeklagte im NSU-Prozess haben die rechte Szene verlassen. | |
> Wirklich? Nur ein glatter Bruch hilft, sagt der Leiter der Arbeitsstelle | |
> Rechtsextremismus und Gewalt. | |
Bild: Vom Neonazi zum Philosophie-Studenten: Steven Hartung war jahrelang tief … | |
taz: Herr Koch, im jetzigen NSU-Verfahren hat Holger G. betont, seit 2004 | |
ausgestiegen zu sein. Nur aus alter Freundschaft hätte er bis 2011 Uwe | |
Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe geholfen. Ist der Beschuldigte für | |
Sie ein Aussteiger? | |
Reinhard Koch: Diese Selbstdefinition von Holger G. ist selbstentlarvend. | |
Ein Ausstieg aus der Szene bedingt den totalen Cut mit diesem | |
Freundeskreis. Diesen Schnitt hat er bei den dreien aus Jena nicht gemacht. | |
Dem moralischen Druckmittel, „aus alter Freundschaft zu helfen“, konnte er | |
sich so auch nicht entziehen, half und verschwieg, was er über Jahre nach | |
dem vermeintlichen „Ausstieg“ machte. | |
Gerade in einer sich selbst als Elite verstehenden klandestinen Szene, in | |
der vermeintlich Treue und Kameradschaft zentrale Werte sind, wirkt dieser | |
Druck besonders. Nur ein Bruch, bei dem die alten Freundschaften aufgegeben | |
werden, befreit wirklich. Alles andere ist ein Selbstbetrug. | |
Ein Ausstieg, der kein Ausstieg war? | |
In den elf Jahren, in denen wir in unterschiedlichen Projekten Aussteiger | |
betreuten, führten wir immer wieder Auseinandersetzungen mit ihnen, wie | |
weit der Prozess der Trennung gehen muss – und ohne die völlige Loslösung | |
geht es nicht. Hier entscheidet sich sofort, wie ernst jemand den Ausstieg | |
vollziehen will. Denn manchen Aussteigern geht es lediglich um ihr | |
Außenbild, dass sich Eltern und Geschwister nicht mehr sorgen, es bei der | |
Ausbildung keine Probleme gibt oder im Internet Einträge zu ihren | |
Aktivitäten gelöscht werden. Eine nachhaltige Auseinandersetzung mit der | |
eigenen Biografie, gelebten Verhaltensweisen und vertretenen Ansichten ist | |
aber unabdingbar. | |
Das bisherige Leben steht auf dem Prüfstand? | |
Ja, in dem Prozess muss sich der Ausstiegswillige fragen, was für Motive | |
bewegten mich, sich dieser Szene anzuschließen? Kameradschaft allein genügt | |
als Antwort nicht. Sie blendet aus, dass einen die Weltanschauung – das | |
Abwerten von Menschen – vermeintlich selbst aufwertet und das Verhalten – | |
Angriffe auf die „Feinde“ – stark erscheinen ließ. | |
Erst wenn auch diese Motive, die einen in die Szene gezogen haben und darin | |
hielten, mit benannt werden, kann eine tiefer gehende Aufarbeitung | |
beginnen. Wir erwarten am Ende dieses Prozesses, der unterschiedlich lang | |
verlaufen kann, dass der ehemalige Rechtsextreme seine früheren politisch | |
motivierten Verhaltensweisen als kontraproduktiv für die eigene Entwicklung | |
erkennt. Ablösung und Aufarbeitung muss dann in die Ausbildung sozialer | |
Kompetenzen übergehen – das ist unser Standard. | |
Ihr Standard? Besteht bei den verschiedenen Ausstiegshilfen keine | |
einheitliche Vorstellung? | |
Bei einzelnen Ausstiegsprogrammen genügt es, wenn der „Aussteiger“ mit den | |
politischen Aktivitäten aufhört oder nicht mehr straffällig wird. Wir | |
würden in diesen Fällen eher von Aufhörer, Stillhalter oder Abtaucher | |
sprechen. Denn sie selbst haben ihre Vita nicht aufgearbeitet und die | |
Betreuung hat nicht einen Wandel der Verhaltensweisen und | |
menschenfeindlichen Einstellungen gefordert. | |
Kommen Männer und Frauen auch zu Ihnen, um Ausstiegsbemühungen vorzuzeigen? | |
Als Alibi? Ja, solche Versuche hatten wir, vor allem von Männern. Frauen | |
steigen aber auch prozentual weniger aus. Ein Rechtsextremer aus | |
Norddeutschland wollte mit uns sein Außenbild ändern, nicht aber seine | |
Einstellungen mit uns aufarbeiten. Da kamen wir nicht zusammen. | |
Muss ein Aussteiger seine gesamten Aktivitäten und Kontakte offenbaren? | |
Diese Sorge treibt Aussteiger um. Sie wollen aussteigen, aber keine | |
Verräter werden. Bei einem Kontakt zu staatlichen Aussteigerprogrammen bei | |
der Polizei oder des Verfassungsschutzes wird dies oft vermutet und deshalb | |
nicht gern gesucht. Auch weil man von Straftaten weiß, die sie eventuell | |
selbst begangen hat. In der Szene hat man schnell die „Karriere“ vom | |
Mitläufer zum Mitwisser und zum Mittäter durchlaufen und könnte vieles | |
später aussagen. Aber auch Kontakte zu Antifagruppen werden da oft | |
vermieden, um nicht über Strukturen erzählen zu müssen. | |
Carsten S. vollzog 2000 eine klare Trennung, redete auch über seine | |
Vergangenheit und verschwieg doch, dass er dem Trio eine Waffe übergab … | |
… aus seiner damaligen Situation nachvollziehbar. Das Verhalten ist aber | |
ein eindeutiges Indiz, dass er sich mit seiner Rolle nie wirklich | |
auseinandergesetzt hat, er scheint seine rechtsextreme Vergangenheit in | |
sich abgekapselt zu haben. Im Verfahren fiel ihm auch schwer, sich über | |
seine politische Einstellung und politische Rolle deutlich zu äußern. Die | |
zögerlichen Aussagen grenzten an Verharmlosungen. Ein weiteres Indiz für | |
die Nichtaufarbeitung. | |
Nebenkläger sprachen nach den ersten Aussagen von Carsten S., dass er die | |
Szene als „Pfadfinderverein“ mit „schicken Klamotten und krasser Musik“ | |
darstelle. Erst bei weiteren Aussagen wurde er deutlicher. Hätten Sie bei | |
einer Betreuung wegen Straftaten Waffen nachgefragt? | |
Über die Motivation dieses Aussageverhaltens kann bisher nur spekuliert | |
werden. Selbstschutz? Verdrängung? Das Verhalten bestätigt allerdings, dass | |
allein eine professionelle Begleitung ein wirklicher Neuanfang beim Denken | |
und Verhalten ohne rechte Konnotationen erst ermöglicht. Zu unserer | |
Begleitung gehört denn auch, wenn ein Vertrauensverhältnis gefunden wurde, | |
nach Waffenbesitz, Schulungen an Waffen und Trainingslagern zu fragen. | |
Gerade auch, weil die Szene extrem militant ist und Waffen immer eine Rolle | |
spielen. | |
In einem Gespräch sagte eine Aussteigerin zu mir: „Scheiße, das ist ja mein | |
halbes Leben gewesen.“ | |
Ein starkes Eingeständnis. Ein richtiger Ausstieg eröffnet zugleich immer | |
auch eine neue Lebensperspektive. | |
17 Jul 2013 | |
## AUTOREN | |
Andreas Speit | |
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