# taz.de -- Entlang der Keystone-XL-Pipeline: Vergiftete Seen, vergiftete Seelen | |
> Die Entscheidung der US-Regierung zum Bau der Keystone-Pipeline nach | |
> Kanada steht noch aus. Ein Besuch an dem Ort, wo die Reise des Öls | |
> beginnen soll. | |
Bild: „Chance und Bedrohung zugleich“ – der Hunger nach fossilen Brennsto… | |
FORT MCKAY taz | Jim Boucher legt gerade Fallen im feuchten, moosbedeckten | |
Boden aus, als er die Planierraupe entdeckt. Aufgeregt läuft das Kind zu | |
seinem Großvater. Erzählt ihm von der großen Maschine in der Lichtung der | |
Taiga. Der alte Mann, der den Enkel in die Geheimnisse der Jagd und des | |
Fischens einführen will, ihm beibringt, wie man Luchse, Biber und | |
Bisamratten häutet und ihr Fleisch trocknet, ist schockiert. | |
Es sind die frühen 60er Jahre. Die Ölkonzerne beginnen mit der | |
industriellen Ausbeutung der Teersande. Sie betrachten den Norden Albertas | |
als das größte ungenutzte Ölreservoir des Planeten. Die Ureinwohner | |
erfahren als Letzte davon. | |
Ein halbes Jahrhundert später erzählt Jim Boucher die Geschichte. Der | |
57-Jährige sitzt in einem lila gemusterten Hemd, mit einem kleinen Strohhut | |
auf dem Kopf, in einem Ledersessel am Kopfende des langen Tisches, an dem | |
sein Rat tagt. Der Blick aus dem Fenster geht auf eine aufgerissene | |
Landschaft. Im Süden steigt dichter Rauch aus einer Fabrik auf, die Bitumen | |
in synthetisches Rohöl verwandelt. Im Osten – jenseits des | |
Athabasca-Flusses, wo er fischen gelernt hat – ertönt das „Popp-popp“ aus | |
Kanonen, die an dem Teich für Industrieabwässer stehen. | |
Das knallende Geräusch soll Vögel davon abhalten, auf dem giftigen Wasser | |
zu landen. Von Westen hört man manchmal einen durchdringenden | |
elektronischen Ton, der signalisiert, dass sich eine der Bergbaumaschinen, | |
groß wie ein mehrstöckiges Haus, rückwärts bewegt. Am Ortseingang wird die | |
Brücke modernisiert, die bislang nur 36-Tonner tragen kann. | |
## Alle Konzerne sind vertreten | |
Das Logo der „First Nation Fort McKay“ zeigt zwei Indianer mit nackten | |
Oberkörpern und Federschmuck auf dem Kopf. Sie paddeln ein Kanu durch | |
strahlend blaues Wasser. Aber die Karte der verpachteten Flächen auf dem | |
„traditionellen Territorium von Fort McKay“ weist in eine andere Richtung. | |
Sie liest sich wie das Who’s Who des internationalen Ölgeschäfts. 77 | |
Konzerne aus Kanada und den USA, aus Europa und aus Asien – darunter BP, | |
Chevron, Exxon, Shell, Total, Suncor und Syncrude – haben von der | |
Provinzregierung von Alberta Pachtverträge auf Stammesgelände ersteigert. | |
Viele Konzerne haben den Wald auf ihren Pachtflächen bereits gerodet, haben | |
die oberen Erdschichten abgetragen und mit dem Abbau der schweren schwarzen | |
Erde begonnen, in der sich das Bitumen befindet, das Öl enthält. Andere | |
Konzerne warten noch auf den geeigneten Moment, mit dem Abbau zu beginnen. | |
Dazu gehören vor allem jene, auf deren Arealen das Öl tiefer liegt. Schon | |
der Tagebau in den Teersanden ist teuer und kostet an Energie und Wasser | |
ein Vielfaches dessen, was zur Förderung von konventionellem Öl nötig ist. | |
Aber wo der Rohstoff hunderte Meter tief lagert, kommen noch Bohrungen und | |
Dampfinjektionen hinzu. Das Bitumen muss in der Tiefe erhitzt und | |
verflüssigt werden, ehe es an die Oberfläche gepumpt werden kann. | |
Seit 27 Jahren ist Jim Boucher Häuptling der kleinen Siedlung in einem der | |
erdölreichsten Gebiete des Planeten. Sein Reservat hat 650 Mitglieder aus | |
„First Nations“. Die Bezeichnung „erste Nation“ geht zurück auf die 80… | |
Jahre in Kanada, als Indianerstämme ihre Landsleute daran erinnern wollten, | |
dass sie das Land lange vor der Ankunft der weißen Siedler bewohnt haben. | |
Damals organisierte die First Nation von Fort McKay auch ihre letzte große | |
Protestaktion gegen die Industrialisierung ihres Stammesgebiets. Sie | |
stellte ein Tipi in die Mitte der Straße und verhinderte tagelang die | |
Durchfahrt von Lastern, die Baumstämme aus der Taiga abfuhren. | |
Die First Nations in der Provinz Alberta haben bis heute eigene | |
Rechtsprechung und Verwaltung. Einige Ältere sprechen noch die Sprachen der | |
Cree und Dene. Doch vom Jagen, Fischen und Sammeln können sie nicht mehr | |
leben. Ihr Wald besteht nur noch aus unzusammenhängenden Flecken, zwischen | |
denen Landschaften von aufgewühlter Erde klaffen. Wild macht sich rar. Und | |
die Fische aus den Flüssen und Seen der Region haben auffällig oft | |
Geschwüre und krumme Wirbelsäulen. | |
## Zwei Millionen Barrel Öl | |
Weil die Preise des Öls in den letzten Jahren explodiert sind, ist die | |
Ausbeutung der Teersande für das Ölgeschäft interessant geworden. Die | |
Produktion im Norden der Provinz Alberta hat sich deswegen rasant | |
beschleunigt. Heute werden täglich fast zwei Millionen Barrel Öl aus den | |
Teersanden geholt. Bis 2030 will die Industrie diese Zahl auf mehr als fünf | |
Millionen Barrel erhöhen. | |
Im Zentrum der industriellen Entwicklung steht die Stadt Fort McMurray. Das | |
einst verschlafene Provinznest, in dem die Temperaturen im Winter auf unter | |
–30 Grad sinken und über dem im Sommer Staub aus den umliegenden Bergwerken | |
liegt, ist die Boomtown Kanadas geworden. „Wir stellen ein“ steht auf einer | |
großen Tafel an der Stelle, wo der Highway 63 nach einer schnurgeraden | |
Strecke über 200 Kilometer durch die Taiga in den Ort übergeht. In Fort | |
McMurray herrscht Arbeitskräftemangel, die Löhne liegen weit über dem | |
nationalen Durchschnitt. Binnen zehn Jahren hat sich die Bevölkerung der | |
Stadt auf mehr als 100.000 verdoppelt. | |
Die Wohnungs- und Zimmerpreise sind hoch wie in den Großstädten an der | |
Ostküste. Und die Trailersiedlungen am Ortsrand sind bis auf den letzten | |
Platz belegt. Weil man bis 2030 weitere 100.000 Zuwanderer erwartet, plant | |
das Rathaus von Fort McMurray neue Wohnblocks und Stadtteile. Der Ort hat | |
ein Vergnügungsbad, ein Sportstadion wird gebaut, von Ölkonzernen | |
gesponsert. Es gibt ein Kasino und mehr Alkoholgeschäfte und Tankstellen | |
als Kirchen. Aber abgesehen von Cross-Country-Fahrern und Eisfischern mag | |
kaum jemand etwas Gutes über „Fort Mack“ sagen. Das Leben hier bedeutet | |
„schlafen, essen, arbeiten“. Man kommt, weil es Arbeit und Geld gibt. Oder | |
weil man – wie viele philippinische Zeitarbeiter – auf eine unbefristete | |
Aufenthaltsgenehmigung hofft. | |
Auch Angehörige der First Nations, die in den Reservaten rund um Fort | |
McMurray leben, arbeiten viele im Ölsektor. Andere Arbeitgeber gibt es | |
kaum. Doch seit die Ölproduktion so angezogen hat, sind immer mehr First | |
Nations vor Gericht und vor die UNO gezogen, um gegen die industrielle | |
Vereinnahmung und Verschmutzung ihres Stammeslandes zu klagen. Dabei | |
berufen sich die meisten auf Verträge, die ihre Vorfahren Ende des 19. | |
Jahrhunderts mit der britischen Krone abgeschlossen hatten und die ihnen | |
die Nutzung des Landes garantieren. Sie verlangen Entschädigungen. Und sie | |
rufen nach unabhängigen Untersuchungen über die auffällige Häufung von | |
Autoimmunkrankheiten, Krebsleiden, Atembeschwerden und Hautsymptomen bei | |
Menschen, die längs der Flussläufe leben, die auch die Ölindustrie nutzt. | |
## Healing Walks und Abschreckkanonen | |
Andere Mitglieder der First Nations haben die Hoffnung, dass ihr Land noch | |
zu retten ist, schon aufgegeben. Violet Cheecham Clarke ist eine von ihnen. | |
Die 85-Jährige gehört zu der First Nation von Anzac, die südlich von Fort | |
McMurray lebt. Aus ihrer Kindheit erinnert sie sich an die Durchfahrt des | |
Zugs einmal pro Woche: „Das war ein großes Ereignis.“ Seit sieben Jahren | |
nimmt Violet Cheecham Clarke am jährlichen „Healing Walk“ teil. Er führt | |
vorbei an Industrieabwässerteichen mit Abschreckkanonen, an Ölgruben unter | |
offenem Himmel und an einer Upgrader-Fabrik, die das dicke und zähe Bitumen | |
flüssig und leicht genug für den Transport in der Pipeline macht. | |
Violet Cheecham Clarke nimmt ihrer eigenen Seele zuliebe teil. „Es ist wie | |
bei dem Tod eines nahen Angehörigen“, erklärt sie, „auch da kommt die gan… | |
Familie zusammen, um Abschied zu nehmen“. Wenn sie es sich finanziell | |
leisten könnte, würde sie umsiedeln – „in eine Gegend ohne Öl“. | |
Häuptling Jim Boucher hat sich für einen anderen Umgang mit dem Öl | |
entschieden. Seine First Nation ist heute eine der reichsten in der Region: | |
mit Kindergarten, Schule, Gesundheitszentrum, modernen Wohnungen und | |
Bildungsstipendien. Zweimal jährlich erhalten Stammesmitglieder mehrere | |
tausend Dollar an Dividenden, die aus Geschäften stammen, die Jim Boucher | |
und seine Vorgänger angebahnt haben. Unter anderem gründeten sie ein | |
Hausmeister-und Gartenbauunternehmen. Und vermieten Container, die als | |
Unterkünfte für Arbeiter in den Teersanden dienen. | |
## Der "heilige Gral" muss bleiben | |
Häuptling Jim Boucher betrachtet das Öl als „Chance und Bedrohung | |
zugleich“. Seit seinem Amtsantritt hat er versucht, das Verhältnis zu den | |
Ölkonzernen zu entschärfen. Und hat ein „Konsultationsverfahren“ für die | |
Bewilligung neuer Baustellen eingeführt. Jüngere First-Nation-Aktivisten | |
empfinden ihn daher als zu versöhnlich, zu eng mit der Industrie | |
verbandelt. Aber Boucher ist stolz darauf, dass seine First Nation seit | |
1993 kein einziges Projekt mehr blockiert hat. | |
In diesem Sommer scheint dieses Konzept an seine Grenzen zu geraten. Die | |
Gefahr geht von einem Bohrvorhaben direkt neben dem Moose Lake im Westen | |
des Stammeslandes aus. Auf der Karte sieht es aus wie ein kleiner Fleck, | |
der rundum längst von Ölabbaugebieten umschlossen ist. Aber Jim Boucher | |
nennt ihn den „heiligen Gral“. Er markiert den Punkt, an dem das Bohren | |
nach Öl für ihn inakzeptabel wird. | |
Chief Boucher spricht nicht von der Umwelt, nicht von der Gesundheit seiner | |
Leute, sondern von „Sicherheit“ und „Ruhe“. Die Mitglieder seiner First | |
Nation fahren mit Buschflugzeugen und Schlitten zum Angeln an den Moose | |
Lake. „Es ist der letzte Ort“, sagt der Häuptling, „an dem wir uns ruhig | |
und sicher fühlen können, nachdem wir alle anderen verloren haben.“ | |
5 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
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