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# taz.de -- Richtlinien für Transplantationen: Organvergabe unter Freunden
> Ein sizilianischer Junge braucht eine Herz-Lungen-Transplantation. Ein
> italienischer Politiker wird vorstellig. Daraufhin ändert Deutschland die
> Vergaberegeln.
Bild: Organtransplantation in einer deutschen Klinik.
BERLIN taz | Im Februar 2010 erhält das Bundesgesundheitsministerium eine
ungewöhnliche Anfrage. Es ist ein Hilfegesuch, übermittelt von der
Deutschen Botschaft in Rom, und es betrifft einen italienischen
Staatsbürger: Ein Junge aus Sizilien, erfährt das Ministerium, sei so
schwer erkrankt, dass er ohne eine Herz-Lungen-Transplantation vermutlich
nicht mehr lange leben werde.
Aufgrund der medizinischen Besonderheiten sei die Transplantation des
Kindes in Italien nicht möglich. Der Fall werde als humanitärer Notfall
eingestuft. Im Falle eines Organangebots sei ein sofortiger Transport des
Kindes nach Deutschland sicher gestellt.
Der Fall ist so dramatisch, dass der damalige italienische Senatspräsident
Renato Schifano, ein Berlusconi-Vertrauter, sich persönlich der Sache
angenommen hat. Er ist es, so schildern es ehemalige
Botschaftsbeschäftigte, der die Botschaft aufgesucht hat. Eine hochrangige
politische Intervention zugunsten eines Spenderorgans für einen einzelnen
Patienten? Wie groß muss das Problem sein?
Das Problem ist: Nach den Richtlinien der Bundesärztekammer darf der
italienische Junge zwar grundsätzlich in Deutschland transplantiert werden.
Es gibt für Bürger aus Ländern wie Italien, die nicht zum
Eurotransplant-Verbund gehören, eine Art Sonderkontingent. Aber: Das Kind
darf, obwohl sterbenskrank, nicht als hochdringlicher Fall eingestuft
werden. Denn dafür müsste es laut den Richtlinien zwingend „unter
intensivmedizinischen Bedingungen im Zentrum behandelt“ werden. Also unter
Kontrolle derjenigen Ärzte, die ihm später Herz und Lunge verpflanzen
sollen.
Diese Ärzte müssen gegenüber der Vergabestelle Eurotransplant alle 14 Tage
melden, ob der Gesundheitszustand weiterhin als hochdringlich oder etwa nur
als dringlich einzustufen ist. Diese Maßnahme soll sicherstellen, dass
angesichts der Organknappheit die wirklich Bedürftigen versorgt werden. Das
Kind aber liegt nicht in Hannover, wo es behandelt werden soll. Es liegt in
einem Krankenhaus in Palermo.
## Medizinisch begründete Regeln
Was aus menschlicher Sicht nachvollziehbar ist – welche Eltern möchten ihr
krankes Kind schon einer ausländischen Klinik anvertrauen, wenn es die
Wartezeit ebenso gut in einer heimischen Klinik überbrücken kann –
widerspricht den strengen Vergaberegeln. Über Sinn und Unsinn dieser
Richtlinien und das Problem, dass sie jeglicher demokratischer Legitimation
entbehren, ist zuletzt im Zusammenhang mit den Manipulationen bei der
Lebervergabe an mehreren Kliniken diskutiert worden.
Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) und Ärzte-Präsident Frank
Ulrich Montgomery betonten dabei stets, die Richtlinien seien nicht
willkürlich, sondern einzig medizinisch begründet. Der Fall des
italienischen Kindes zeigt nun jedoch, dass die Regeln bei Bedarf offenbar
ganz fix geändert werden können, auch ohne medizinische Gründe. Die Frage
nach einer möglichen politischen Einflussnahme freilich weisen die damals
Beteiligten zurück.
Der Reihe nach: Die Ärzte in Hannover, die im Dezember 2009 erstmals den
Gesundheitszustand des Jungen beurteilen, stufen ihn – Palermo hin oder her
– als hochdringlich ein; das Leben des Jungen ist ihnen wichtiger als die
Richtlinie. Bei Eurotransplant beantragen sie eine Herz-Lungen-Kombination.
Doch Eurotransplant wird stutzig; am 25. Januar 2010 wird der Fall intern
diskutiert.
## Hochdringlichkeitsantrag abgelehnt
Darf man sich über die Richtlinien hinwegsetzen? Wäre die Ausnahme für das
italienische Kind nicht zugleich eine mögliche Benachteiligung anderer
Patienten auf der Warteliste? „Aufgrund der grundlegenden Bedeutung des
Falles wurde beschlossen, diesen Fall an die Prüfungskommission zur
Beurteilung vorzulegen“, erinnert sich der Medizinische Direktor von
Eurotransplant, Axel Rahmel, heute, mehr als drei Jahre später. Anfang
Februar 2010 wird der Hochdringlichkeitsantrag nach erneuter Prüfung
abgelehnt. Der Junge hat damit praktisch keine Chance auf eine zeitnahe
Transplantation.
Doch der Junge hat einen starken Lobbyisten – den damaligen italienischen
Senatspräsidenten. Auch Renato Schifani kommt aus Sizilien; er spricht bei
der Deutschen Botschaft vor. „Die Italiener haben damals angeboten,
jederzeit ein Militärflugzeug bereit zu stellen für den Transport“,
erinnert sich Hans Lilie, der als Vorsitzender der Ständigen Kommission
Organtransplantation bei der Bundesärztekammer mit dem Fall befasst war.
„Das hat uns schon gewundert.“
Und das Bundesgesundheitsministerium, damals unter Führung des heutigen
FDP-Chefs Philipp Rösler? Es habe die Anfrage aus Rom lediglich „der
Vermittlungsstelle Eurotransplant zur Kenntnis gegeben“, teilte die
Parlamentarische Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz unlängst in einem
Schreiben an die Grünen im Bundestag mit. Der Präsident von Eurotransplant,
Bruno Meiser, bestätigte der taz, damals vom Ministerium kontaktiert worden
zu sein. Ob sich das Ministerium darüber hinaus in den Fall eingemischt
habe, sei ihm nicht erinnerlich. Meiser erklärte dem Ministerium damals,
dass die Richtlinien für hochdringliche Patienten bindend seien.
Anfang März 2010 wird für das italienische Kind erneut der
Hochdringlichkeitsstatus beantragt. Der Junge ist zwischenzeitlich nun doch
nach Hannover verlegt worden. Da „nun auch keine formalen Gründe“ mehr
vorlagen, so Rahmel, wird der Status zuerkannt.
## Pragmatische Auslegung
Ein paar Wochen später werden diese formalen Gründe abgeschafft. Am 30.
März 2010 schicken Hans Lilie und Heinz Angstwurm, Chefs der Ständigen
Kommission Organtransplantation und der Prüfungskommission, eine
Interpretationshilfe an Eurotransplant, wie die Richtlinie übergangsweise
„pragmatisch“ auszulegen sei: „Nahe liegt die kooperierende Klinik, aus d…
ein … Patient … so rechtzeitig zur Transplantation verlegt werden kann,
dass die für seine dazu erforderliche Vorbereitung möglich ist.“
Kurze Zeit später wird die Richtlinie offiziell geändert. „Wir haben das
letztendlich aufgrund dieses Einzelfalls gemacht, ja“, sagt Hans Lilie. Für
den Hochdringlichkeitsstatus reicht es nun, dass der Patient in einem
Krankenhaus ist, das ein Arzt der transplantierenden Klinik einmal
wöchentlich „visitieren“ kann. Inzwischen, nach nochmaliger Änderung,
genießen Kinder unter 15 Jahren, die auf eine Herz-Lungen-Transplantation
warten, übrigens automatisch Hochdringlichkeitsstatus. Das italienische
Kind ist, wie die taz erfuhr, erfolgreich transplantiert worden.
19 Sep 2013
## AUTOREN
Heike Haarhoff
## TAGS
Organtransplantation
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