# taz.de -- Kommentar Behindertenpolitik: Im Stuhlkreis | |
> Behinderung ist vor allem eine Frage der Perspektive. Politiker sollten | |
> mehr mit Menschen mit Einschränkungen sprechen als über sie. | |
Bild: Redet mit ihnen: Demonstranten fordern die Gleichstellung von Menschen mi… | |
Finanzminister Wolfgang Schäuble hat Zauberkräfte. Es glitzert, Feenstaub | |
weht umher, und plötzlich kann er aus dem Rollstuhl aufstehen. Schöne | |
Vorstellung, leider bleibt sie ein Wunsch. Realistischer wäre es, jede | |
Barriere, die ihm in die Quere kommt, zu verzaubern. | |
Was unglaublich klingt, könnte längst wahr sein. Dafür würde es schon | |
reichen, wenn die Parteien ihre Behindertenpolitik umdenken. In den | |
Wahlprogrammen zeigt sich die Misere: Viele PolitikerInnen plädieren eher | |
für den pädagogischen Stuhlkreis als für die Begegnung mit behinderten | |
Menschen im Alltag. | |
Das Motto der Linkspartei lautet: „Selbstbestimmt und mittendrin: eine | |
inklusive Gesellschaft ohne Hindernisse“. Ein schöner Satz, der den | |
Beigeschmack einer Unmündigkeit der Behinderten und ein Helfersyndrom der | |
Nichtbehinderten mit sich trägt. Offenbar leben wir in einer Gesellschaft, | |
in der Die Linke dafür werben muss, dass Menschen mit Behinderung „nicht | |
auf ihre Mängel reduziert und bevormundet werden“. | |
Um ihr Ziel praktisch umzusetzen, wäre es wünschenswert, wenn zum Beispiel | |
RollstuhlfahrerInnen ins Theater kommen, ohne eine halbe Irrfahrt durch den | |
Hintereingang absolvieren zu müssen. Denn eine Gesellschaft ohne | |
Hindernisse ist kein exklusives Problem von gehbehinderten Menschen. Über | |
einen funktionierenden Aufzug zur U-Bahn freuen sich auch Eltern mit | |
Kinderwagen, ältere Menschen mit Gehhilfen und junge Teenies mit prall | |
gefüllten Einkaufstaschen. | |
## Gruppenthearpie statt offener Umgang | |
Die SPD verordnet der Gesellschaft in Sachen Inklusion eine Gruppentherapie | |
in geschlossenen Räumen: „Wir brauchen Orte und Gelegenheit für | |
Begegnungen, für gemeinsames Arbeiten, Lernen und vieles mehr – so genannte | |
inklusive Sozialräume.“ Wie wäre es denn damit, die ganze Welt zu diesem | |
Ort der Begegnung zu machen? In der Arbeit, auf der Straße, im Laden? | |
Die CDU meint: „Durch Arbeit zum eigenen Lebensunterhalt beitragen zu | |
können hat für Menschen mit Behinderung eine besondere Bedeutung.“ Wie man | |
diesen Satz auch dreht und wendet, es leuchtet nicht ein, warum es für sie | |
eine besondere Bedeutung haben soll, sich selbst finanziell versorgen zu | |
können. Träumt davon nicht jeder Mensch? | |
Nur die Grünen erwähnen in ihrem Programm konkrete Details ihrer geplanten | |
Behindertenpolitik: Sie fordern, dass es auch Müttern mit Behinderung | |
erleichtert werden müsse, Beruf und Familie zu vereinbaren. Auch wollen sie | |
mehr ErzieherInnen mit Behinderung in Kitas einstellen. Was wird sich aber | |
in der nächsten Legislaturperiode ändern? Wohl nicht viel. Inklusion ist | |
ein verbreitetes Thema, aber die Frage ist: „Wie soll das alles bloß | |
funktionieren?“ | |
## Ein neuer Blickwinkel würde helfen | |
## | |
Das Grundproblem ist die klare Trennung im Alltag: „Behindert“ sind die | |
einen und wahlweise „gesund“ oder „normal“ die anderen. Besser aber wä… | |
eine Gesellschaft, in der es egal ist, wer welche Defizite mitbringt. | |
Barrieren in den Köpfen müssten verschwinden, um die Barrieren auf der | |
Straße zu sehen. Denn die scharfe Kante zwischen „behindert“ und „normal… | |
verhindert, dass Menschen ihre Potenziale ausschöpfen. | |
Selbst weitestgehend selbstständige und unabhängige Menschen mit | |
Einschränkungen bekommen jede Schwäche vorgehalten, die sie im Alltag | |
zeigen. Anstatt zu akzeptieren, dass beinahe jeder Mensch irgendein Defizit | |
mitbringt, führt die klare Trennung dazu, dass manche „behinderter“ gemacht | |
werden, als sie sind. | |
Selbst wenn es behinderte Menschen in die von PolitikerInnen so viel | |
zitierte Mitte der Gesellschaft schaffen, sollte ihre Einschränkung besser | |
nicht mehr sichtbar sein. Denn wenn sie dort schwächeln, dann sind sie | |
schnell wieder die Behinderten, die eigentlich nicht den „normalen“ Weg | |
hätten gehen sollen. | |
Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte das Problem in einem Interview: | |
„Letztlich realisiert sich Inklusion am besten im Alltag, ganz konkret an | |
der Ladentheke, am Arbeitsplatz, im Restaurant und gerade auch im Sport. Es | |
ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, Gemeinsamkeiten herzustellen.“ | |
Doch statt Merkels eigener Partei verfolgen die Grünen ihre Idee: Ginge es | |
nur nach ihnen, würde man die behinderte Mutter mit Kind nicht in der | |
Therapiesitzung, sondern beim Bäcker um die Ecke treffen. Übrigens ganz | |
ohne Feenstaub und Zauberkräfte. | |
20 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Judyta Smykowski | |
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