| # taz.de -- Inklusion in Köln: Hier bitte anstellen | |
| > In einem Supermarkt im Kölner Stadtteil Alt-Niehl sind die meisten | |
| > Angestellten körperlich oder geistig behindert. Das Projekt soll sich | |
| > bald selbst tragen. | |
| Bild: Tony Ruban sitzt an der Kasse. Er ist einer von fünf Menschen mit Behind… | |
| KÖLN taz | Als Milazin Shabani wieder einmal aussortiert wurde, wusste er, | |
| dass es nicht an seiner Arbeit lag. Der 31-Jährige kannte das Ritual schon | |
| viel zu lange, immer wieder zu Vorstellungsgesprächen eingeladen zu werden, | |
| um dann doch wieder eine Absage zu erhalten. Oder nur Zeitverträge, die nie | |
| verlängert wurden. | |
| Jetzt füllt der gelernte Bürokaufmann Regale in einem Supermarkt auf. Er | |
| kümmert sich um die Waren, geht durch die Gänge und schaut, wo er was | |
| machen kann und welcher Kunde seine Hilfe braucht. „Dies hier ist der beste | |
| Job der Welt“, sagt er und lacht. „Ich bin sehr, sehr glücklich.“ | |
| Wer durch den Supermarkt in Köln Alt-Niehl geht, ahnt nicht sofort, dass es | |
| sich um keinen typischen Nahkauf handelt, bei dem das Neonlicht auf den | |
| grauen Linoleumboden strahlt, Preisreduzierungen mit Knallfarben beworben | |
| werden und Mitarbeiter sich möglichst hinter den Regalen verstecken, um | |
| jeglichen Kundenkontakt zu vermeiden. Lediglich eine gerahmte Urkunde am | |
| Eingang weist darauf hin, dass es sich hier um einen speziellen Betrieb | |
| handelt. | |
| Das Besondere wird hier erst auf den zweiten Blick erkennbar: Dass Milazin | |
| Shabani und seine Kollegen recht langsam arbeiten und meistens zu zweit | |
| anpacken. Dass sie Kunden gegenüber äußerst aufmerksam sind. Dass der | |
| Marktleiter besonders geduldig mit seinen Mitarbeitern spricht und ihnen | |
| mehr Aufmerksamkeit schenken muss als sonst üblich. | |
| Denn in diesem Supermarkt haben fünf der insgesamt acht Mitarbeiter eine | |
| körperliche oder geistige Behinderung. So wie Milazin Shabani, der | |
| Linksspastiker ist, einen verkürzten Arm und ein verkürztes Bein hat, also | |
| auf die Unterstützung seiner Kollegen angewiesen ist. | |
| ## Kein Sozialbiotop | |
| Finanziert wird der 2012 eröffnete Nahkauf mit Geldern vom Land, der Aktion | |
| Mensch und der Diakonie, betrieben durch den Qualifizierungsverein „Zug um | |
| Zug“. Die Anschubfinanzierung gibt es aber nur für sechs Jahre, danach muss | |
| der Supermarkt sich von allein rentieren. Der Betrieb soll auf die Dauer | |
| kein Sozialbiotop sein, es geht nicht um Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für | |
| Behinderte, es geht natürlich auch um Wirtschaftlichkeit – wie überall. Im | |
| ersten Jahr schrieb man eine schwarze Null, für Ausbildungsplätze reicht | |
| das Geld aber noch nicht. | |
| Neben der sozialen Eingliederung handelt es sich auch um ein | |
| Stadtteilprojekt: Denn die Immobilie stand jahrelang leer, große | |
| Lebensmitteldiscounter hatten kein Interesse, eine Filiale hier zu | |
| eröffnen, jahrelang gab es in Köln Alt-Niehl keinen Supermarkt. In dem | |
| linksrheinischen Stadtteil leben überwiegend ältere Menschen. Es gibt ein | |
| Seniorenheim, ein Krankenhaus und einer Pferderennbahn. Alt-Niehl ist wie | |
| ein Dorf in der Großstadt. | |
| Auch für Marktleiter Wilfried Wenger ist dieser Job eine neue Chance. Der | |
| 58-Jährige begann als 14-Jähriger bei Kaiser’s, war dort zuletzt | |
| Marktleiter. Nach 41 Jahren erhielt er die Kündigung. Mit behinderten | |
| Menschen hatte er zuvor nie etwas zu tun, als er die neue Stelle angeboten | |
| bekam, zögerte er dennoch nicht. Was ihn am meisten in seinem neuen Job | |
| überraschte? | |
| „Meine Mitarbeiter sind motivierter als andere in vergleichbaren | |
| Positionen“, sagt er. „Sie sind so froh, überhaupt einen Job zu haben.“ … | |
| gebe es in diesem Betrieb weniger Krankmeldungen als in seinem alten, | |
| erzählt Wenger. Mitarbeiter würden auch an ihren freien Tagen reinkommen, | |
| um die Kollegen zu unterstützen. | |
| ## Überdurchschnittlich hochbegabt | |
| Bundesweit gibt es Betriebe, die gezielt Menschen mit einem Handicap | |
| einstellen. Der Softwarekonzern SAP will verstärkt Menschen mit Autismus | |
| als IT-Spezialisten einstellen. Bis 2020 will das Unternehmen weltweit 650 | |
| Autisten als Softwaretester, Programmierer und Spezialisten für | |
| Datenqualitätssicherung beschäftigen. Natürlich macht das Unternehmen dies | |
| nicht aus Nächstenliebe, sondern aus wirtschaftlichen Gründen. | |
| Autisten sind überdurchschnittlich hochbegabt und gelten als | |
| hochkonzentriert. Solche Fähigkeiten autistischer Menschen könnten etwa in | |
| Abteilungen für Qualitätskontrolle und Fehlersuche verwendet werden. In | |
| Hamburg wurde 1993 Europas erstes integratives Hotel eröffnet. Mittlerweile | |
| haben sich wegen des großen Erfolgs im „Embrace“-Verbund 30 integrative | |
| Hotelbetriebe aus Deutschland und Italien zusammengeschlossen. | |
| Mit der Unterzeichnung einer UN-Konvention hat sich Deutschland | |
| verpflichtet, Menschen mit Handicap genauso zu behandeln wie Menschen ohne | |
| Behinderung. Ein Schlüsselwort in dem Text der Vereinten Nationen heißt | |
| Inklusion, also die Einbeziehung von beeinträchtigten Menschen in allen | |
| gesellschaftlichen Bereichen von Geburt an. | |
| ## Gewinn statt Belastung | |
| Die UN-Konvention trat vor vier Jahren in Kraft. „Doch von einer wirklich | |
| inklusiven Gesellschaft sind wir noch weit entfernt“, kritisiert Gerhard | |
| Wegner, Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen | |
| Kirche in Deutschland. Unternehmen und Betriebe sähen Menschen mit | |
| Förderungsbedarf oft nicht als Gewinn, sondern als zusätzliche Belastung. | |
| „An finanziellen staatlichen Zuschüssen mangelt es nicht.“ Aber eine | |
| zunehmend auf Leistung orientierte Gesellschaft sorge dafür, dass selbst | |
| kleinere Probleme zur Arbeitslosigkeit führten. „Macken müssen als | |
| Verschiedenheiten gesehen werden“, fordert Wegner. | |
| In Deutschland müssen Unternehmen ab 20 Beschäftigten mindestens 5 Prozent | |
| ihrer Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten besetzen. Ansonsten müssen sie | |
| eine Strafabgabe zahlen. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit lagen | |
| die privaten Arbeitgeber allerdings mit einer Quote von 4 Prozent im Jahr | |
| 2011 unter dieser Vorgabe. | |
| In Deutschland werden Menschen mit einem Handicap als Arbeitskräfte zumeist | |
| noch immer in Behindertenwerkstätten abgeschoben oder bleiben gar ohne | |
| Beschäftigung. Ein gewaltiges Potenzial wird aus der Mitte der Gesellschaft | |
| gedrängt. In Deutschland bewegt sich die Arbeitslosenquote unter | |
| schwerbehinderten Menschen seit Jahren um 15 Prozent und liegt damit | |
| deutlich höher als die aktuelle Arbeitslosenquote von 6,8 Prozent. Mehr als | |
| die Hälfte der Unternehmen beschäftigt nicht genug Schwerbehinderte, | |
| sondern zahlt die Ausgleichsabgabe. | |
| ## „Vielfalt macht stark“ | |
| Anna Waldau gilt in der freien Wirtschaft als schwer vermittelbar. Die | |
| 24-Jährige ist psychomotorisch retardiert, bewegt sich langsam und | |
| unsicher. Menschen wie sie sind in der Arbeitswelt unsichtbar. Anna Waldau | |
| hat zwar eine Lehre als Bürokauffrau in einem Berufsbildungswerk beendet, | |
| eine Festanstellung fand sie nie. Zu krank, zu anders, zu speziell – eine | |
| Chance bekam sie erst wieder im Nahkauf, sie konnte sich gegen 30 | |
| MitbewerberInnen durchsetzen. | |
| „Vielfalt macht stark“, sagt die junge Frau, die auf die Unterstützung | |
| ihrer Kollegen angewiesen ist, denn ein Nebeneinander funktioniert hier | |
| nicht, jeder muss auf die Einschränkungen des anderen Rücksicht nehmen. | |
| Doch die Probleme stehen zumeist auf der anderen Seite der Kasse: schräge | |
| Blicke; ein Kunde musste rausgeworfen werden, nachdem dieser ausfällig | |
| wurde; wird eine Tüte aus Versehen zwei Mal eingetippt, kommt auch hier | |
| eine schroffe Nachfrage. Rücksicht ist im Nahkauf in Alt-Niehl ebenso | |
| Mangelware wie in vielen anderen Supermärkten auch. Der eigentlich | |
| selbstverständliche, respektvolle Umgang mit Behinderten ist eben bei | |
| weitem noch keine Normalität. | |
| 2 Nov 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Cigdem Akyol | |
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