# taz.de -- Tag der Menschen mit Behinderung: Die sich auf die Straße traut | |
> In einer sibirischen Stadt sitzen Menschen mit Behinderung zu Hause fest. | |
> Soja Lasarewna hat sich ihren motorbetriebenen Rollstuhl erkämpft. | |
Bild: Mit ihrem Rollstuhl fährt Soja Lasarewna, wenn nötig, auch gerne mal au… | |
ANGARSK taz | Wie immer bleibt Soja Lasarewna vor der Tür der Apotheke | |
stehen und wartet, bis ihr Enkel Erdeni wieder herauskommt. Als das | |
Pärchen, das vorübergeht, die 72-Jährige wahrnimmt, angelt der Mann | |
unwillkürlich in der Manteltasche nach einigen Rubelscheinen. | |
„Lass das!“, zischt seine Begleiterin. „Sieh dir doch mal an, wie die | |
angezogen ist“. – „Ach so“, kommt es dem Mann über die Lippen. Dann zi… | |
sie weiter, ohne die Frau noch eines Blickes zu würdigen. „Es ist doch | |
immer dasselbe! Sieht man mich irgendwo nur für ein paar Minuten warten, | |
denken die Leute gleich, ich bin eine Bettlerin.“ Soja Lasarewna kocht vor | |
Wut. | |
Die rüstige Rentnerin mit der energischen Stimme, die lange Jahre in der | |
Logistikabteilung eines Moskauer Ministeriums gearbeitet hat, kann es nicht | |
fassen. Dabei erweckt die gut gekleidete und dezent geschminkte Frau eher | |
den Eindruck einer pensionierten Managerin – wäre da nicht ihr Rollstuhl, | |
mit dem sie nun schon fast 31 Jahre lebt. | |
„Bei uns gibt es keine Behinderten!“, ruft Soja, zurück in ihrer | |
Erdgeschosswohnung, und spielt auf Leonid Breschnew an, den damaligen Chef | |
der Kommunistischen Partei, der mit diesen Worten den Aufbau einer | |
Rollstuhlproduktion abgelehnt hatte. 1983 wäre Soja Lasarewna bei einem | |
Autounfall fast ums Leben gekommen. | |
Die Ärzte hatten sie schon aufgegeben. „Es war vor allem mein starker | |
Wille, der mich am Leben gehalten hat“, erzählt Lasarewna und lacht. „Ich | |
wollte überleben, und ich habe überlebt.“ Seitdem ist sie | |
querschnittsgelähmt. Ihrem Gast aus Deutschland bietet sie Gemüse und Obst | |
an. „Das ist alles aus meinem eigenen Garten“, fügt sie stolz hinzu. „Er | |
ernährt mich und Erdeni. Gurken, Kartoffeln, Kraut, Kürbisse, Tomaten, | |
Stachelbeeren brauchen wir nicht mehr einzukaufen, sie kommen direkt aus | |
unserem Garten.“ | |
## Erhöht angelegte Beete | |
Direkt vor dem Fenster liegt ihr penibel aufgeräumter Garten. Die Beete | |
wurden erhöht angelegt, sodass man auf sie vom Rollstuhl aus bestellen, das | |
Gemüse gießen und auch ernten kann. Die Wege zwischen den Beeten wurden von | |
ihrem Enkel Erdeni so verbreitert, dass der Rollstuhl bequem hindurchpasst. | |
„Ich mache im Garten fast alles selbst“, sagt Soja. „Aber dass ich ihn | |
überhaupt habe, verdanke ich meinem Enkel. Erdeni ist bei mir groß | |
geworden, nun hilft er mir mit meinem Leben, im Garten und im Haushalt.“ | |
An der Innenseite der Haustür der gläubigen Buddhistin prangt ein großes | |
Bildnis vom Dalai Lama. Auch aus ihrem Glauben schöpft die Burjatin | |
Lasarewna Kraft. Das benachbarte Burjatien, eine russische Teilrepublik am | |
Ostufer des Baikalsees, ist die Heimat des russischen Buddhismus. Einmal im | |
Jahr pilgert Soja, Lasarewna, in Begleitung ihres Enkels Erdeni, dorthin zu | |
den heiligen Stätten des Buddhismus, um Energie zu tanken. | |
## Die Fahrstühle sind zu eng | |
Und Soja Lasarewna braucht ihre ganze Kraft. Die Trottoirs von Angarsk, | |
einer Stadt mit 250.000 Einwohnern in Westsibirien, sind schlecht | |
asphaltiert und für Rollstühle nicht befahrbar. Löcher und hohe Bordsteine | |
machen das Fahren mit einem Rollstuhl unmöglich. Doch Soja Lasarewna lässt | |
sich nicht aus der Fassung bringen. Stoisch nimmt sie, wenn sie für | |
Besorgungen in der Stadt unterwegs ist, mit ihrem elektrisch betriebenen | |
Rollstuhl eine ganze Fahrspur ein. Was den verdutzten Autofahrern immer | |
wieder hektische Bremsmanöver beschert. | |
Diese Entgeisterung kommt nicht von ungefähr. Soja Lasarewna ist die | |
einzige Person mit Behinderung in der Viertelmillionenstadt, die mit ihrem | |
Rollstuhl auf Straßen fährt. „Alle anderen trauen sich kaum aus der | |
Wohnung“, berichtet sie. Verständnis werde den Angarsker Rollstuhlfahrern | |
selten entgegengebracht. Sicher, seit Leonid Breschnews Zeiten habe sich | |
schon etwas getan, räumt Soja ein. Doch die meisten Angebote seien | |
bestenfalls dem Image der Verantwortlichen dienlich. | |
Im Dezember letzten Jahres hatten die städtischen Behörden anlässlich der | |
UNO-Dekade zur Inklusion stolz den modernisierten Kulturpalast der | |
Öffentlichkeit präsentiert, erzählt Soja Lasarewna. „Die Besucher staunten | |
nicht schlecht, als sie die eigens für Rollstuhlfahrer neu gebaute Rampe | |
besichtigen durften.“ | |
## An den Rollstuhlfahrern vorbeigeplant | |
Aber schnell wurde aus Staunen Fassungslosigkeit, als der erste | |
Rollstuhlfahrer versuchte, den Weg in den Kulturpalast zu nehmen. Die Rampe | |
war zu steil, die Kurven waren zu eng. In seiner Not forderte der blamierte | |
Bürgermeister kurzfristig Soldaten der nächsten Einheit an, die die | |
Behinderten auf Händen in den Saal trugen. Anschließend wurden die | |
Rollstühle in den Kulturpalast gehievt. „Hätte man uns Behinderte doch mal | |
in die Planungen einbezogen! Dann wäre alles etwas weniger peinlich | |
gewesen“, sagt Soja Lasarewna und lacht. | |
Auch sonst hätten die Behörden nicht viel übrig für die Belange von | |
Menschen mit Behinderung. Hätten Behinderte früher alle sieben Jahre ein | |
neues Auto erhalten, sei diese Maßnahme seit Putins erster Amtszeit | |
abgeschafft. Nun gebe es stattdessen zusätzliches Geld auf die Rente, | |
monatlich 101 Rubel – umgerechnet 2,30 Euro. Nicht viel für die ehemalige | |
Staatsangestellte, die mit einer Rente von 210 Euro über die Runden kommen | |
muss. | |
In Russland, so klärt Lasarewna auf, gebe es zwei Klassen von Invaliden. | |
Wer infolge eines Arbeitsunfalls behindert sei, erhalte zwei Renten, eine | |
vom Staat und eine vom Arbeitgeber. Da sie außerhalb der Arbeitszeit | |
verunglückt ist, erhält sie nur die einfache Rente. Ihr stehen auch pro | |
Jahr nur 21 Tage Kuraufenthalt zu, während sich Behinderte, die aufgrund | |
eines Arbeitsunfalls im Rollstuhl leben, 42 Tage in einem Sanatorium | |
erholen können. | |
## Die Juristin kann sich helfen | |
Soja will weiter für ihre Rechte kämpfen. Als ein Gutachter dagegen | |
votierte, dass der Staat ihren elektrisch angetriebenen Rollstuhl | |
finanziert, da „die Funktionalität der oberen Extremitäten in keinster | |
Weise eingeschränkt ist“, ließ Lasarewna nicht locker. Inzwischen hat sie | |
ihren von einem Motor gesteuerten Rollstuhl. Als Abonnentin juristischer | |
Fachzeitschriften weiß sie, dass sie ein Anrecht auf die kostenlose | |
Reparatur ihres Rollstuhls hat. Als die städtische Behörde nicht zahlen | |
wollte, prozessierte sie durch mehrere Instanzen, bis schließlich das | |
Moskauer Ministerium die Bezahlung der Reparatur anordnete. | |
Seit Jahren ist Soja Lasarewna Mitglied in der „Angarsker Union der | |
Rollstuhlfahrer“. Doch bedingt durch die Behinderungen der Mitglieder | |
findet das Vereinsleben fast nur per Telefon oder Skype statt. „Ich habe | |
Glück, kann in einer Erdgeschosswohnung leben. Mein Enkel hat mir für den | |
Eingang eine rollstuhltaugliche Rampe gebaut.“ Doch die anderen Mitglieder | |
des Vereins kommen praktisch nie vor die Haustür. „Wer nicht im Erdgeschoss | |
lebt, muss den ganzen Tag in der Wohnung bleiben.“ Auch die Aufzüge sind | |
nutzlos. „Die Rollstühle sind zu breit für unsere engen Fahrstühle.“ | |
Dreißig Mitglieder sind in der Angarsker Union der Rollstuhlfahrer | |
eingetragen. Wie viele Menschen mit Körperbehinderung wirklich in der Stadt | |
leben, lasse sich aus dieser Zahl jedoch nicht erschließen, sagt Lasarewna. | |
## Ein Vorbildcharakter | |
Hilfe erfahren Menschen mit Behinderung in Angarsk kaum, mitunter kommen | |
Gläubige einer umliegenden Kirche oder junge Mitglieder eines patriotischen | |
Vereins vorbei, helfen Soldaten, wenn sich ein Vorgesetzter hat überreden | |
lassen, diese zu den Behinderten abzuordnen. | |
Angarsk, die verschlafene Provinzstadt unweit des Baikalsees, hat keine | |
Sehenswürdigkeiten zu bieten. In Deutschland kennt man sie – wenn überhaupt | |
– wegen ihrer Urananreicherungsanlage, die auch Atommüll aus Gronau | |
beherbergt. Die in der Stadt angesiedelte Chemieindustrie führt bei vielen | |
Kindern zu Allergien und Atemwegserkrankungen. Es ist kaum zu erwarten, | |
dass man sich ausgerechnet hier die Umsetzung der UNO-Konvention zur | |
Inklusion von Menschen mit Behinderung auf die Fahne schreiben wird. | |
Doch Soja Lasarewna will nicht aufgeben. Und ihr Lebensmut steckt andere | |
an. Viele folgen ihrem Beispiel, lassen sich von Bürokraten nicht mehr | |
länger abwimmeln, beschweren sich bei deren Vorgesetzten. Und wer | |
Schwierigkeiten hat, ein Schreiben zu formulieren, kann sich an die | |
juristisch versierte Soja Lasarewena wenden. Für den bevorstehenden Winter | |
hält sie für die trägen Behörden der Stadt eine Warnung parat: „Wenn Sie | |
dieses Jahr wieder nicht den Schnee vor meiner Haustür räumen, werde ich | |
bis nach Moskau schreiben, um der Regierung von diesem Skandal zu | |
berichten!“ | |
3 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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