| # taz.de -- Mediziner über Alkoholkonsum: Falsches Bild vom gemütlichen Winzer | |
| > Der Hepatologe Andreas Umgelter fordert den Alkoholkonsum | |
| > zurückzudrängen. Die Industrie bekämpfe jedoch breitenwirksame Maßnahmen. | |
| Bild: Eher Werbung der Industrie als Standard der Alkoholproduktion. | |
| sonntaz: Die Zahl der krankheitsbedingten Fehltage aufgrund von | |
| Suchterkrankungen ist in den vergangenen zehn Jahren um 17 Prozent | |
| gestiegen. Alkohol gilt dabei als das Teufelszeug schlechthin: 44 Prozent | |
| aller Fälle suchtbedingten Arbeitsunfähigkeit gehen auf Alkoholmissbrauch | |
| zurück – fast jeder zweite Fall. Ist Besorgnis berechtigt oder nur ein Fall | |
| von Tugendterror? | |
| Andreas Umgelter: Die eindeutig suchtbedingten Arbeitsausfälle sind nur die | |
| Spitze des Eisbergs. Auch der Patient mit Leberzirrhose, der jedem sofort | |
| beim Thema Alkohol einfällt, repräsentiert nur einen Teil des Schadens, der | |
| tatsächlich durch Alkohol verursacht wird. Viel schwerer wiegen | |
| Tumorerkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krankheiten des | |
| Bewegungsapparats und des Zentralnervensystems. Wir wissen, dass der | |
| Alkoholkonsum ein wesentlicher Mitverursacher dieser Volkskrankheiten ist. | |
| Im Einzelfall sind diese Krankheiten jedoch schwieriger eindeutig dem | |
| Alkoholkonsum zuzuordnen – zumal die Wirkung sehr stark von der | |
| individuellen genetischen Veranlagung abhängt. | |
| Für Deutschland schätzte die WHO die Folgekosten des Alkoholkonsums auf 32 | |
| Milliarden Euro im Jahr 2007. Deutschland liegt mit 12 Liter reinem Alkohol | |
| pro Kopf und Jahr in der Spitzengruppe der Alkoholverbraucher weltweit. Der | |
| weltweite Durchschnitt liegt bei gut 6 Litern. Der Alkoholkonsum in | |
| Deutschland muss aus medizinischer Sicht drastisch reduziert werden. | |
| Wir sollen unsere besten Jahre schön abstinent verbringen – um dann am Ende | |
| im Pflegeheim festzustellen, dass wir dank unseres gesunden Lebenswandels | |
| immerhin fünf zusätzliche Jahre im Rollstuhl gewonnen haben? | |
| Wenn die Jahre die besten wären, müssten wir nicht so viel trinken. Es ist | |
| doch so: Das Gros der Leute, die zu viel trinken, tut das nicht mit | |
| besonderem Genuss, sondern aus Gewohnheit und zur Entspannung. Die Leute | |
| merken nicht, wie sehr der Alkohol zu einem Teil ihres Lebens geworden ist. | |
| Beim Alkoholkonsum besteht die Fiktion, nur ein sozial unangenehm | |
| auffälliger Missbrauch sei schädlich. Der abwertende Blick auf den Säufer | |
| dient doch der Selbstberuhigung: „So einer bin ich nicht, also habe ich | |
| kein Problem.“ | |
| Hat man aber doch? | |
| In Wirklichkeit hat der gesellschaftlich als normal empfundene Konsum bei | |
| vielen Menschen erhebliche gesundheitsschädliche Wirkungen. Wir wissen | |
| einerseits, dass es keine sichere Untergrenze gibt, unterhalb deren | |
| Alkoholkonsum nicht schädlich wäre. Andererseits wissen wir, dass sich | |
| jeglicher Rückgang des Alkoholkonsums in einem Land sofort in einen | |
| Rückgang der alkoholbedingten Gesundheitsschäden übersetzt. | |
| Der Anteil derjenigen, die in gefährlichen Mengen Alkohol konsumieren, | |
| häufig zur Stressbewältigung, ist enorm. Vermutlich sind es mehr als 10 | |
| Prozent der Bevölkerung. Die wenigsten davon sind im landläufigen Sinn | |
| alkoholabhängig, also tatsächlich physisch abhängig. Vielleicht liegt | |
| hierin eine besondere Gefahr – viele Menschen nehmen das Problem nicht | |
| ernst. | |
| Woran liegt das? Trinker sind doch, jedenfalls wenn man den | |
| wissenschaftlichen Erhebungen der AOK folgt, alles andere als dumme oder | |
| unerfahrene Menschen: Die Wahrscheinlichkeit eines regelmäßigen | |
| Alkoholkonsums steigt mit dem Bildungsgrad und dem Alter. Müsste man solche | |
| Leute nicht besonders gut aufklären können? | |
| Aber doch nicht über Kampagnen! Die sind bloß teuer. Es gibt keinen | |
| wissenschaftlichen Nachweis, dass Aufklärungskampagnen gegen Alkohol | |
| irgendeinen messbaren Effekt hätten. Im Gegenteil: Die von der Industrie | |
| gesponserten Kampagnen zum „verantwortungsvollen Trinken“ haben vielleicht | |
| eher den Effekt, Alkohol im Alltag als normal erscheinen zu lassen. | |
| Wahrscheinlich deshalb werden sie von der Alkoholindustrie auch bevorzugt, | |
| gemeinsam mit Vorschlägen zur „Selbstkontrolle“ und dem Versuch, den | |
| Schaden durch Alkohol als Randgruppenphänomen darzustellen. Das wesentliche | |
| Geschäft machen die Alkoholkonzerne mit den vielen Menschen, die regelmäßig | |
| zu viel trinken – und nicht mit ein paar offensichtlichen Alkoholikern. | |
| Deswegen bekämpfen die Konzerne auch breitenwirksame Maßnahmen. | |
| Und die wären? | |
| Die Gesundheitswissenschaften wissen, was hilft: höhere Preise über höhere | |
| Besteuerung, Zugangsbeschränkungen, Werbeverbote und die Früherkennung von | |
| Risikoverhalten mit frühen Therapieangeboten. | |
| Mit solchen erzieherischen Maßnahmen wurde den Leuten schon erfolgreich der | |
| Tabak verleidet. Rauchen gilt inzwischen in vielen Kreisen als asozial. Und | |
| jetzt wollen Sie Verdauungsschnaps und Feierabendbier ächten? | |
| Schnaps verdaut nicht, und Bier macht keinen Feierabend. Sie dürfen nicht | |
| vergessen, dass es ein sehr langer Prozess war, den Nikotinkonsum | |
| zurückzudrängen. Noch vor 20 Jahren war es einfach normal, überall zu | |
| rauchen … | |
| … oh ja, gern auch im Auto bei geschlossenen Fenstern, während die Kinder | |
| auf der Rückbank saßen. | |
| Ja, und ebenso wenig vorstellbar war damals, dass man eines Tages in einer | |
| Kneipe nicht mehr würde rauchen dürfen. Beim Alkohol ist das Problem anders | |
| gelagert. Alkohol ist tief in unserem Alltag verwurzelt. Ich habe | |
| Patienten, die kommen in meine Sprechstunde und beteuern, Herr Doktor, ich | |
| trinke wirklich keinen Alkohol, sondern nur Bier … Bei manchen scheint ein | |
| Sozialleben ohne Alkoholkonsum gar nicht vorstellbar. | |
| Der Feldzug gegen die Zigarette war insofern leichter zu führen, als eines | |
| der zentralen Argumente gegen das Rauchen die unmittelbare Schädigung | |
| Dritter war. Eine Gefährdung durch Passivsaufen ist indes nicht bekannt. | |
| Darf man Menschen die Freiheit nehmen, sich selbst zu schädigen? | |
| Das stimmt doch so nicht! Gut, Tabakkonsum ist vielleicht schneller eine | |
| Zumutung für die Umgebung. Nur: Passivsaufen gibt es auch – in Form von | |
| Unfällen und Gewalt. Davon abgesehen werden in unserer Gesellschaft die | |
| gesundheitlichen Schäden durch Tabak- und Alkoholkonsum durch die | |
| Solidargemeinschaft getragen. Das finde ich gut. Dazu gehört auch, dass | |
| diese Solidargemeinschaft Schritte ergreift, um den Schaden gering zu | |
| halten. | |
| Wie soll riskanter Alkoholkonsum denn Ihrer Meinung nach sanktioniert | |
| werden? | |
| Riskanter Alkoholkonsum hat Krankheitswert. Ich bin dagegen, Krankheiten zu | |
| sanktionieren. Sanktioniert werden soll der Profit, der aus riskanten | |
| Konsumgütern gezogen wird. Wir müssen auch das Bild von der kleinen | |
| Brennerei, dem gemütlichen Winzer und der handwerklichen Brauerei | |
| korrigieren: diese alle sind heute Ausnahmen. Werbung und Lobbyarbeit – die | |
| politisch sehr erfolgreich ist – werden von Konzernen bestimmt, die | |
| Milliarden umsetzen und glühende Verfechter der Deregulierung sind. Wir | |
| müssen verhindern, dass deren Lobbyarbeit Schritte gegen schädlichen | |
| Alkoholkonsum weiterhin blockiert. | |
| Herr Umgelter, darf man das ernsthaft fordern: ein französisches Sternemenü | |
| – so ganz ohne Rotwein? | |
| Nein. Aber wenn man vor jedem Glas Rotwein ein französisches Menü zu sich | |
| nehmen würde, hätten wir ohnehin kein Problem. | |
| 16 Sep 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Heike Haarhoff | |
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