# taz.de -- Lebertransplantation bei Alkoholkranken: Hilfe als Regelverstoß | |
> Der Umgang mit Suchtkranken steht exemplarisch für den Reformbedarf des | |
> Transplantationssystems. Die Kriterien bedürfen dringend einer | |
> Überprüfung. | |
Bild: Ressentiments gegen Alkoholkranke bestehen bei vielen Ärzten, auch bei T… | |
Silvia C. ist 40 Jahre alt. Vor 18 Monaten begann sie zu trinken. Die | |
Gaststätte, die sie mit ihrem Mann vor ein paar Jahren eröffnet hatte, | |
wuchs ihr über den Kopf, sie hatte das Gefühl, ihre zwei Kinder zu | |
vernachlässigen. Der Alkohol verschaffte ihr Entspannung. Seit drei Monaten | |
hatte ihr Konsum zugenommen. Dass sie hier ein Problem hatte, gestand sie | |
sich nicht ein. | |
Von einem Tag auf den anderen konnte sie nichts mehr bei sich behalten. Sie | |
vertrug auch keinen Alkohol mehr. Gleichzeitig bemerkte sie, wie sich ihre | |
Augen gelb färbten. Die Diagnose im Krankenhaus: akute Alkoholhepatitis. | |
Auch eine beginnende Leberzirrhose wird festgestellt. Eine Therapie mit | |
Kortison schlägt nicht an. Nach einer Woche beginnen Blutungen. Aus der | |
Nase. Dann aus dem Magen. Die Ärzte verlieren die Hoffnung. | |
Vor zwei Jahren veröffentlichte eine französisch-belgische Arbeitsgruppe um | |
Philippe Mathurin aus Lille in einer renommierten medizinischen | |
Fachzeitschrift [1][Ergebnisse der Lebertransplantation bei Patienten mit | |
akuter Alkoholhepatitis]. Von den Transplantierten überlebten mehr als drei | |
Viertel das kritische erste halbe Jahr. Von den nicht Transplantierten | |
weniger als ein Viertel. Eine günstige psychologische und soziale Prognose | |
war Voraussetzung, um an der Studie teilzunehmen. Nur ein kleiner Teil der | |
Patienten überwand diese Hürde. | |
Für Silvia C. ist eine Transplantation in Deutschland nicht erlaubt, auch | |
wenn Psychologen ihr eine hervorragende Prognose ihrer Suchterkrankung | |
bescheinigen. Die [2][Richtlinien der Bundesärztekammer] bestimmen lapidar: | |
„Bei Patienten mit alkoholinduzierter Zirrhose erfolgt die Aufnahme in die | |
Warteliste erst dann, wenn der Patient für mindestens sechs Monate völlige | |
Alkoholabstinenz eingehalten hat.“ Ausnahmen? Keine. | |
## Reformbedarf | |
Soll Silvia C. sterben, obwohl man ihr helfen könnte? Kann, darf ein Arzt | |
das verantworten? Der Umgang mit Alkoholikern steht exemplarisch für den | |
Reformbedarf des Transplantationssystems: Die Kriterien, nach denen | |
Spenderorgane in Deutschland vergeben werden, bedürfen dringend der | |
wissenschaftlichen Überprüfung und der gesellschaftlichen Legitimation. | |
Die sogenannte Sechsmonatsregel geht auf eine Stellungnahme der | |
amerikanischen Gesellschaft für Lebererkrankungen aus den 90er Jahren | |
zurück. Sie empfahl, dass „die meisten alkoholkranken Patienten mindestens | |
sechs Monate abstinent sein sollten, bevor sie zur Transplantation gelistet | |
werden“. | |
So sollte erstens der Leber Zeit gegeben werden, sich eventuell zu erholen, | |
und sollten überflüssige Transplantationen vermieden werden. Zweitens | |
sollte eine sechsmonatige Karenz die Vorhersage erleichtern, ob es dem | |
Patienten gelingen würde, auch dauerhaft ohne Alkohol zu leben. | |
Tatsächlich zeigt sich, dass eine Erholung der Leberfunktion im | |
Wesentlichen in den ersten drei Monaten nach Beendigung des Alkoholkonsums | |
erfolgt. Für die Prognose eines Rückfalls in die Suchterkrankung ist eine | |
sechsmonatige Alkoholkarenz ein Faktor unter vielen. | |
## Zwischen Rückfall und Kontrolle | |
Eine Alkoholabhängigkeit ist erst nach Jahren der Alkoholkarenz stabil | |
unter Kontrolle. Oft ist der Verlauf von einem Wechsel zwischen Rückfällen | |
und erneuter Kontrolle geprägt. Der Funktion des Transplantats schadet das | |
meist nicht. Sie leidet dann, wenn es über längere Zeit zu erheblichem | |
Alkoholkonsum kommt. | |
Deshalb hat sich eine französische Konsensuskonferenz schon lange gegen die | |
Sechsmonatsregel ausgesprochen. In England stellt James Neuberger, eine | |
Koryphäe der britischen Lebertransplantationsmedizin, fest: „Die | |
6-Monats-’Regel‘ “ ist irrelevant, basiert nicht auf wissenschaftlichen | |
Daten und hatte im Vereinigten Königreich nie Bedeutung.“ | |
Und in Deutschland? Als im Jahr 2000 erstmals Richtlinien für | |
Lebertransplantationen erlassen wurden, lautete der betreffende Paragraf | |
noch anders. Dem Verbot der Listung in den ersten sechs Monaten der | |
Alkoholkarenz folgte die Einschränkung, dass Patienten mit psychologisch | |
attestierter guter Prognose und erfolgter Entzugsbehandlung früher auf die | |
Warteliste gesetzt werden könnten. Mit einer Novelle im Jahr 2006 entfiel | |
diese Ausnahme, ohne dass neue medizinische Erkenntnisse vorgelegen hätten. | |
Ressentiments gegen Alkoholkranke bestehen bei vielen Ärzten, auch bei | |
Transplantationsmedizinern. Sie werden von den Entscheidungsträgern im | |
Transplantationswesen aber vor allem der Gesellschaft unterstellt. Den | |
potenziellen Organspendern sei nicht vermittelbar, wenn Alkoholiker | |
transplantiert würden, hört man oft. Ob das wirklich so wäre, wenn den | |
Menschen Hintergründe und Konsequenzen dieser Regel bekannt wären, hat | |
bislang niemand untersucht. | |
## Keine Chance | |
In Deutschland sterben wegen dieser Regel Patienten, denen mit guter | |
Erfolgsaussicht geholfen werden könnte. Auch wenn eine Frist zur | |
Beurteilung der Erfolgsaussichten im Kampf gegen die Alkoholabhängigkeit | |
zumutbar und wünschenswert ist – in den Fällen, in denen Patienten trotz | |
vermutlich guter Suchtprognose keine Chance haben, die geforderten sechs | |
Monate zu überleben, muss anders entschieden werden können. | |
Bei Silvia C. hat sich das Team der behandelnden Ärzte über die Bestimmung | |
der Richtlinien hinweggesetzt und damit einen der Regelverstöße begangen, | |
die im Rahmen der Überprüfung verschiedener deutscher | |
Transplantationszentren in den letzten Monaten öffentlich wurden. Viele | |
davon mögen durch Schlamperei, Ehrgeiz oder fehlgeleitetes Helfertum | |
erklärbar sein. Aber nicht alle. | |
Die Richtlinien zur Organtransplantation kranken an Ungenauigkeiten, sind | |
in vielen Bereichen überholt und an entscheidenden Stellen lückenhaft. Das | |
Ziel, die Überlebenschancen zwischen allen Patienten mit einer | |
Transplantationsindikation gerecht zu verteilen, erfüllen sie nicht. Viele | |
Juristen bezweifeln auch deshalb, dass die Regelung des | |
Transplantationswesens verfassungsgemäß ist. Unter den Bedingungen des | |
derzeitigen Organspendermangels ist sie in jedem Fall für manche Patienten | |
tödlich. Silvia C., die in Wahrheit anders heißt, hat die Transplantation | |
überlebt und blieb trocken. | |
3 Apr 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa1105703 | |
[2] http://www.aerzteblatt.de/download/files/2013/02/down40499798.pdf | |
## AUTOREN | |
Andreas Umgelter | |
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