Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kolumne Nüchtern: Die Angst und der Griff zum Glas
> Trinken ist der einzige voll anerkannte Stressbewältiger. Und seien wir
> ehrlich: Im Elfenbeinturm riecht es doch nach Supermarkt-Cabernet.
Bild: Was da schon wieder rumsteht ...
Neulich im Fitnessstudio, als ich mich auf dem Laufband einem
Herz-Kreislauf-Zusammenbruch zu nähern schien, schallte plötzlich David
Guettas Dance-Song „Play hard“ aus meinen Kopfhörern, Teil einer ziemlich
peinlichen Playlist, die ich beim Joggen höre. It always does the trick.
Nichts ist schöner als ein Runner’s High.
Der Song, ich weiß nicht, warum es mir nicht schon vorher aufgefallen ist,
stellt mit seinem eingängige Refrain „We work hard, we play hard, keep
partying like it’s your job“ im Grunde so etwas wie die Proletenpop
gewordene Essenz des bürgerlichen Trinkens dar: Wir arbeiten viel, um
genauso viel feiern zu können.
Tagsüber Ärger im Büro und abends Rotwein. Die Woche über kann man ran,
Freitagabend schon winkt der nächste Absturz.
## Lieblingsdenkfigur der Kulturkritik: Hygienefantasie
Eine der Lieblingsdenkfiguren der Kulturkritik, wenn es um Alkohol geht,
ist die der Hygienefantasie. Philosophen wie Robert Pfaller haben eine
ganze Karriere darauf aufgebaut, das Schreckensbild einer Gesellschaft zu
entwerfen, in der man das Trinken den Restriktionen der Gesundheitspolitik
unterwerfen möchte, nur um das Hamsterrad aus Arbeit und Konsum noch
reibungsloser surren zu lassen.
Auch Kritikerinnen wie Ursula März überschreiben ihre Texte gern mit
Bonmots wie „Kein Wein ist auch keine Lösung“ und beklagen die Genuss- und
Erlebnisarmut unserer angeblichen Spaßgesellschaft.
Dem guten Leben, so der Befund aus dem nach Supermarkt-Cabernet riechenden
Elfenbeinturm, würde heute von neoliberalen Produktivitäts- und
Selbstoptimierungsfantasien der Krieg erklärt. Wohl bekomm’s.
Das Grundproblem dieser Argumentation ist natürlich, dass sie nicht bei der
Realität ansetzt, sondern beim Wunsch – dem Wunsch, durchs Trinken und
Sich-gehen-Lassen eine bessere Welt zu erschaffen oder zumindest zu einer
Welt zurückzufinden, in der der bürgerliche Überlebenskampf noch nicht ganz
so hart schien wie heute.
Eine Welt, in der Zeitungsredaktionen und Universitätslehrstühle noch als
sichere Arbeitgeber galten, in der es noch klar voneinander abgegrenzte
soziale Schichten gab und Damen noch Damen sein durften.
In der Realität ist das Trinken zur einzigen vollumfänglich anerkannten
Abschaltstrategie der Stressgesellschaft unserer Tage geworden. Als solche
wird es uns rituell vorgelebt und aufs Bitterste verteidigt.
## Stress und Alkohol gehen Hand in Hand
Ob in Kleinstadtdiskos, in gebildeten Berliner Altbauwohnungen oder den
Manager-Etagen mit ihren Champagnerkisten und Escort-Flotten: Stress und
Alkoholkonsum gehen Hand in Hand. Je länger unsere Arbeitszeiten werden,
desto mehr verspricht Alkohol nicht nur eine Auszeit.
Er wird zunehmend auch zum quasinatürlichen Weg, sich diese Auszeit zu
nehmen, und manchmal sogar zum selbst erklärenden Grund dafür. Einen
verkaterten Kollegen fasst man mit Samthandschuhen an.
Ich persönlich finde es verständlich, wenn man auf berufliche und
finanzielle Ängste, auf wachsende soziale Ungleichheit und Befürchtungen
des sozialen Scheiterns mit dem gelegentlichen Griff zum Glas reagiert, um
wenigstens für einen Abend Ruhe davor zu haben. Problematisch wird dieser
Griff nur, wenn er wie für viele von uns zur Gewohnheit wird.
Alkohol ist eine äußerst effektive Selbstmedikation gegen Ängste – bis sie
eben nicht mehr funktioniert. Für mich selbst hat, wie in meinem
Work-out-Lied, irgendwann ein Umschwung eingesetzt: Auch das Entspannung
versprechende Partymachen wurde zu einem umfänglichen Job.
Der Wunsch nach einer Auszeit, die ich mir allein nicht zu nehmen traute,
sorgte für noch mehr Stress in meinem Leben. Und lange hatte ich das
Gefühl, daran nichts mehr ändern zu können. Die Wahrheit ist, dass wir,
Gesellschaft hin oder her, alle die Möglichkeit haben, unser Leben so
umzustellen, dass es dahin nicht kommen muss.
14 Apr 2013
## AUTOREN
Daniel Schreiber
## TAGS
Alkohol
Alkohol
Alkohol
Nüchtern
Alkohol
Alkohol
Nüchtern
Alkohol
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kolumne Nüchtern: Winter des Lebens
Bücher übers Trinken sind beliebt, ebenso die Vorstellung, dass
Schriftsteller Alkoholiker sind. Doch der Konsum hat seinen Preis.
Mediziner über Alkoholkonsum: Falsches Bild vom gemütlichen Winzer
Der Hepatologe Andreas Umgelter fordert den Alkoholkonsum zurückzudrängen.
Die Industrie bekämpfe jedoch breitenwirksame Maßnahmen.
Kolumne Nüchtern: Klarer in Brandenburg
Zwar haben Menschen schon immer Alkohol getrunken, aber heute trinken wir
unvergleichlich mehr. Warum die „Mad Men“-Nostalgie in die Irre führt.
Kolumne Nüchtern: Den Kumpelabend basteln
Um Erlebnisse intensiv zu erfahren, braucht man ein Hilfsmittel, denkt man
sich. Aber viele benutzen Trinken einfach, um den Lärm im Kopf zu
beruhigen.
Kolumne Nüchtern: Die große Suchtoper
Gehört es zu einer guten Suchtbeichte, blond zu sein? Und warum gerät die
reuige Trinkerin so viel öfter vor die Kamera als der Trinker?
Kolumne Nüchtern: Die Scham der Anderen
Wer mit dem Rauchen aufhört, wird gelobt. Und der Extrinker?
Alkoholabstinenz: Versuchen Sie mal, nichts zu trinken
Nicht jeder, der zu viel trinkt, ist automatisch ein Alkoholiker. Gedanken
darüber, warum Abstinenz eine gute Sache sein kann.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.