| # taz.de -- Kolumne Nüchtern: Den Kumpelabend basteln | |
| > Um Erlebnisse intensiv zu erfahren, braucht man ein Hilfsmittel, denkt | |
| > man sich. Aber viele benutzen Trinken einfach, um den Lärm im Kopf zu | |
| > beruhigen. | |
| Bild: Szene aus dem Film „Letzte Runde“: Eine Männerfreundschaft, die übe… | |
| Nachdem er mit dem Trinken aufgehört hatte, erklärte der französische | |
| Philosoph Gilles Deleuze, Autor von „Tausend Plateaus“, dass man dem Werk | |
| immer etwas opfern muss und dass für ihn nun eben der Alkohol an der Reihe | |
| war. | |
| Jahrelang hatte er wie viele Philosophen und Schriftsteller vor und nach | |
| ihm unter Einfluss geschrieben. Das Trinken, habe er lange gedacht, würde | |
| ihm dabei helfen, Begriffe zu kreieren, die zu stark für ihn seien, auf | |
| Gedanken zu kommen, die man dem Leben nur mit Alkohol abringen konnte. Bis | |
| ihm auffiel, dass das alles großer Quatsch war. | |
| Während meines Redaktionsjobs, der nach allen Maßgaben des | |
| Vorstellungsvermögens nicht zu groß für irgendein Leben war, habe ich immer | |
| ein ganz ähnliches Gefühl gehabt. In gewissem Sinne beschreibt Deleuze eine | |
| Struktur, die viele Bereiche unseres Lebens umfasst, wenn man | |
| gewohnheitsmäßig trinkt – nicht nur die eigene Arbeit, sondern auch | |
| Freundschaft, Familie oder Liebe und Sex. Um sie dem Leben abzuringen und | |
| intensiv zu erfahren, braucht man ein Hilfsmittel, denkt man sich. | |
| Das scheint tief in unserem kollektiven Verhalten verankert zu sein. Man | |
| kennt diese Denkstruktur nicht nur aus den literarischen Apotheosen des | |
| Rauschs von Fitzgerald oder Hemingway; in vulgarisierter Form begegnet man | |
| ihr an jeder Straßenecke. | |
| ## Wozu Cola? | |
| Etwa, wenn Bacardi für seinen neuen Rum namens „Oak“ mit dem Spruch Werbung | |
| macht: „Wir basteln uns einen Kumpelabend: Oak. Cola. Fertig.“ Das wird | |
| bestimmt ein lustiger Kumpelabend, denkt man sich. Es fragt sich nur, wozu | |
| man die Cola braucht. | |
| Ich habe noch kein Familienfest erlebt, das nicht für ein paar | |
| Familienmitglieder im Halbrausch endete, war noch auf keiner Bürofeier, von | |
| der Leute nüchtern nach Hause gingen, und kenne viele Paare, deren | |
| abendliches Ritual darin besteht, sich ein, zwei Flaschen Wein zu teilen. | |
| Ich bin schon oft genug neben jemandem aufgewacht, den ich nicht kannte, um | |
| festzustellen, dass betrunkener Sex eine recht verbreitete kulturelle | |
| Praxis ist, und habe mich in teuren Restaurants eigentlich immer lieber | |
| darüber unterhalten, wie der Wein zum Essen passt, als über das Essen | |
| selbst. Das alles ist ein Teil der Realität, der einem erst bewusst wird, | |
| wenn man nicht mehr trinkt. | |
| ## Die Erfahrungen sind das Leben | |
| Die Wahrheit ist natürlich, dass man dem Leben nichts abringen muss – weder | |
| irgendwelche intensiven Erfahrungen und Arbeitstage noch Kumpelabende, Sex | |
| oder Haute Cuisine. Denn die Erfahrungen sind das Leben. Und viele von uns | |
| benutzen das Trinken einfach, um den Lärm im Kopf zu beruhigen, der den | |
| Genuss dieser Erfahrungen sonst verstellen würde. | |
| Um unsere Schuldgefühle, Unsicherheiten und zurückgehaltenen Vorwürfe | |
| handhabbar zu machen, dem Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit im Büro zu | |
| begegnen, um sich abzulenken von dem, was man eigentlich schon immer | |
| wirklich mit seinem Leben machen wollte. | |
| Gewohnheitsmäßiges Trinken mag zunächst dabei helfen, das alltägliche, | |
| innere Unglück einzudämmen. Aber irgendwann sorgt es vor allem dafür, dass | |
| man nichts daran ändert: dass man nicht allein ins Kino geht, anstatt mit | |
| dem Ehemann schon wieder den „Tatort“ zu schauen, oder nicht auf den Typen | |
| wartet, mit dem man wirklich schlafen will. | |
| Dass man sich der Trotteltyrannei im Büro nicht entzieht, eben nicht | |
| wirklich mal den Jakobsweg entlangpilgert oder „Krieg und Frieden“ liest. | |
| Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass Sie all diese Sachen gleich einfach | |
| so machen werden, sollten Sie auf das Trinken verzichten. Aber die | |
| realistische Möglichkeit besteht dann. | |
| 20 May 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Daniel Schreiber | |
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