| # taz.de -- Kolumne Nüchtern: Die Scham der Anderen | |
| > Wer mit dem Rauchen aufhört, wird gelobt. Und der Extrinker? | |
| Bild: Szene aus dem Film „Letzte Runde“: Eine Männerfreundschaft, die übe… | |
| Als ich kürzlich in die Apotheke ging, um ein Erkältungsbad zu kaufen, kam | |
| ich mit der Pharmazeutin ins Gespräch. Die halbe Stadt werde von dieser | |
| Grippewelle lahmgelegt, sagte sie. Und ich erzählte, dass ich den Infekt | |
| schon seit Wochen mit mir herumtrage. | |
| Im vergangenen Winter, als ich ein halbes Jahr nicht rauchte, war ich nicht | |
| erkältet. Gerade würde ich wieder versuchen, aufzuhören. Sie brauchte auch | |
| mehrere Anläufe, um sich von den Zigaretten zu trennen. Vor drei Jahren | |
| habe sie es endlich geschafft. „Toi, toi, toi. Man ist da ja wie ein | |
| trockener Alkoholiker“, meinte sie und kicherte ein bisschen, halb | |
| erschrocken über das, was sie gerade gesagt hatte. | |
| Kurz war ich irritiert. Nicht, dass mich der Vergleich gestört hätte. Ich | |
| denke auch, dass Ex-Raucher und Ex-Trinker vieles gemeinsam haben, nicht | |
| zuletzt das Wissen, dass sie eine Zigarette oder ein Glas wieder in die | |
| Abhängigkeit katapultieren würde. | |
| ## Ein großer sozialer Fall | |
| Aber während wir dem ehemaligen Raucher im Allgemeinen positiv | |
| gegenüberstehen, ihm zu seinem neuen, nikotinfreien Leben gratulieren, wird | |
| dem ehemaligen Trinker oft eine verschämte Form von Mitleid oder Ablehnung | |
| entgegengebracht – ganz so, als hätte er einen großen sozialen Fall | |
| hingelegt und als wäre er von einem grauenhaften Leiden befallen worden, | |
| das ihn nun von dem ausschließt, was eigentlich Spaß macht. | |
| Viele Leser haben [1][meinen Text in der taz vom 27. Dezember] online | |
| kommentiert oder mir geschrieben. Unter ihnen waren Menschen, die ebenfalls | |
| mit dem Trinken aufgehört haben, welche, die wissen, dass das ansteht, | |
| sogar einige, die der Text davon abgehalten hat, nach einer Zeit der | |
| Nüchternheit wieder zum Glas zu greifen. Viele der Zuschriften haben mich | |
| gerührt, weil sie mich an den Schmerz erinnerten, der für mich früher zum | |
| Alltag gehörte. | |
| ## Ein sehr körperliches Problem | |
| In fast allen aber trat die Scham zutage, die gesellschaftlich mit dem | |
| Eingeständnis einhergeht, nicht mehr trinken zu können – allen | |
| medizinischen und neurobiologischen Forschungen zum Trotz, die nachweisen, | |
| dass es sich dabei nicht um ein moralisches Scheitern handelt oder eine | |
| Schwäche der Willenskraft, sondern um ein sehr körperliches Problem, genau | |
| wie Diabetes, Asthma oder Depression. | |
| Ich kenne diese Scham, ich habe sie jahrelang verspürt: immer dann, wenn | |
| mir abends diese leise Stimme im Kopf sagte, dass ich wieder zu viel | |
| trinke. Immer, wenn ich morgens mit einem schlechten Gewissen oder, | |
| schlimmer noch, mit einem Filmriss aufwachte. Und auch immer dann, wenn ich | |
| es mal schaffte, ein, zwei Wochen ohne Alkohol auszukommen, und mir dann | |
| einredete, dass das bedeute, ich hätte kein Problem. | |
| Ich habe mich noch lange geschämt, nachdem ich aufgehört hatte zu trinken. | |
| Es hat Monate gebraucht, bis ich unverkrampft Nein sagen konnte, wenn man | |
| mir ein Glas Wein anbot, und nicht mehr das Bedürfnis hatte, mir Gründe | |
| dafür auszudenken, dass ich keinen Alkohol trinke. Ohne diese Scham hätte | |
| ich vielleicht schon früher die unglaubliche Erleichterung verspürt, die | |
| mit der Entdeckung einhergeht, nicht mehr trinken zu müssen und dass die | |
| Zeit, in der ich noch trank, im Nachhinein viel Sinn ergibt. | |
| Mein Leben ist nicht vorbei, es ist auch nicht mehr etwas, das ich | |
| aushalten oder meistern muss. Im Gegenteil: Heute fühle, glaube und mache | |
| ich Dinge, die ich früher nie für möglich gehalten hätte. | |
| 23 Jan 2013 | |
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| ## AUTOREN | |
| Daniel Schreiber | |
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