| # taz.de -- Azubi im Rollstuhl: Von Amts wegen behindert | |
| > Wenn Arbeitgeber Menschen mit Behinderung einstellen wollen, müsste das | |
| > die Behörden freuen. Martin Keune und sein Azubi Alexander Abasov haben | |
| > das Gegenteil erlebt. | |
| Bild: Büroalltag trotz Behinderung - das sollte eigentlich kein Problem mehr s… | |
| Als Martin Keune ans Mikrofon tritt, zittert seine Stimme leicht. Die | |
| Urkunde hat er vor sich aufs Pult gelegt. „Berliner Ausbildungsbetrieb | |
| 2013“, so darf er seine Firma nun nennen. Aber Keune sagt: „Mir ist | |
| wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir hier als Problem wahrgenommen werden | |
| und nicht als Lösung.“ | |
| Die Auszeichnung hat die IHK Keunes Werbeagentur Zitrusblau verliehen, weil | |
| sie einen schwerbehinderten jungen Mann zum Grafikdesigner ausbildet. Nicht | |
| zwei oder drei, auch nicht fünf – einen. „Wenn wir damit schon eine | |
| Ausnahme sind, was heißt das für die berufliche Situationen von Behinderten | |
| in diesem Land?“, fragt Keune. Es heißt, dass die betreute Werkstatt der | |
| Normalfall für Menschen mit Behinderung ist. Und dass die wenigsten den | |
| Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt schaffen. | |
| Alexander Abasov, der Azubi, sagt über seine Arbeit: „Es ist manchmal sehr | |
| anstrengend. Aber jeden Morgen, wenn ich aufwache, denke ich: Ich will da | |
| unbedingt hin.“ Wäre es nach den Behörden gegangen, hätte Abasov seine | |
| Chance auf Ausbildung vorbeiziehen lassen müssen. | |
| ## Kopf und Hand | |
| An einem Morgen im April vor zwei Jahren taucht der damals 26-jährige | |
| Abasov in der Wilmersdorfer Agentur auf. Er hat keinen Termin, aber ein | |
| Anliegen – er will Designer werden. Das Problem dabei ist offensichtlich, | |
| Abasov ist spastisch gelähmt. Seine Muskulatur wird von launischen Impulsen | |
| regiert. Nur der Kopf und eine Hand sind teilweise seinem Willen | |
| unterworfen. Beim Sprechen ringt er den Krämpfen die Worte einzeln ab. Kaum | |
| zu glauben, dass er mit der verdrehten rechten Hand nicht nur den | |
| Elektrorollstuhl, sondern auch ein Grafikprogramm bedienen kann. | |
| Geschäftsführer Keune hält Abasov vielleicht nicht für ein gestalterisches | |
| Genie, aber für ernsthaft, lernwillig und hochmotiviert. Zum ersten Mal in | |
| 25 Jahren stellt die Firma einen Schwerbehinderten ein – den ersten, der | |
| gefragt hat. Dafür erhält Keune von den zuständigen Behörden reichlich | |
| warme Worte: „Vorbildlicher Einsatz“, „Solche wie Sie müsste es mehr | |
| geben“, „Respekt!“, „Hut ab!“. | |
| Aber dann wird es konkret. Die für den Zugang mit Rollstuhl notwendigen | |
| Umbauten in den Firmenräumen liegen in der Verantwortung des | |
| Integrationsamts. Zudem müssen zwei wesentliche Kostenpunkte von der | |
| Agentur für Arbeit finanziert werden: ein Fahrdienst, der Alexander Abasov | |
| zur Berufsschule fährt, und eine Arbeitsassistenz, also ein Helfer, der ihm | |
| während der Arbeitszeit zur Verfügung steht, beim Essen und Trinken hilft, | |
| kleine Handreichungen ausführt und zur Toilette begleitet. | |
| Das Grundgesetz stellt in Artikel 3 klar: Niemand darf wegen seiner | |
| Behinderung benachteiligt werden. Und die | |
| [1][UN-Behindertenrechtskonvention], die von der Bundesrepublik 2009 | |
| ratifiziert wurde, spricht ausdrücklich vom gleichberechtigten Zugang zu | |
| Beruf und Ausbildung. Es ist also keine Bittstellerei, es sind verbriefte | |
| Rechte, die Alexander Abasov über seinen Arbeitgeber bei den Behörden | |
| geltend macht. Und die diese Behörden, allen voran die Arbeitsagentur, ihm | |
| schließlich verwehren. | |
| Bei Zitrusblau gibt es einen prall gefüllten Ordner mit der Aufschrift | |
| „Alexander“. Darin enthalten ist ein wohlformulierter Antrag Keunes vom 24. | |
| Mai 2011, mehr als drei Monate vor Ausbildungsbeginn. Zudem die gesammelte | |
| Korrespondenz, die einen Eindruck davon vermittelt, wie leicht es Ämtern | |
| möglich ist, ihren Pflichten aus dem Weg zu gehen, während sie andere | |
| strampeln lassen. Keune muss mehr Unterlagen heranschaffen „als bei | |
| Unternehmensgründung, Heirat oder kreditfinanziertem Immobilienkauf“, wie | |
| er es ausdrückt. | |
| Dann wird Abasov für ein psychologisches Gutachten in die Arbeitsagentur | |
| bestellt. Er ist nicht geistig behindert, er hat ein Schulzeugnis mit guten | |
| Noten, eine Firma hält ihn für geeignet und will ihn einstellen. Dennoch | |
| nötigt man ihn im Jobcenter, sechs Stunden lang de facto Schulaufgaben zu | |
| bearbeiten. „Ein Idiotentest“, wie Abasov nüchtern feststellt. Schließlich | |
| werden ihm zufriedenstellende Leistungen bescheinigt. Die Herausgabe des | |
| Gutachtens wird auf mehrfache Nachfrage verweigert. | |
| „Das war der Tiefpunkt, da habe ich endgültig das Vertrauen verloren, dass | |
| die mit uns am selben Strang ziehen“, wird Keune sich später erinnern. Und | |
| genau drei Tage vor Ausbildungsbeginn am 1. September erhält Keune eine | |
| lapidare E-Mail. „Nach Rücksprache mit unserem Teamleiter kann dem Antrag | |
| zum jetzigen Zeitpunkt nicht entsprochen werden“, heißt es darin. | |
| „Ausbildung geplatzt, Azubi kann heimrollen, der Spastiker bitte zurück in | |
| die Werkstatt. Das war unser Ergebnis nach dreimonatigem Kampf!“ Keune ist | |
| fassungslos. Im Gefühl des Scheiterns startet er einen letzten, | |
| entscheidenden Versuch. Mit Hilfe eines Geschäftspartners leitet er einen | |
| Notruf direkt an den Senat. | |
| Am nächsten Morgen erörtert eine Staatssekretärin mit dem Teamleiter der | |
| Arbeitsagentur den Stand der Dinge. Der bedauert drei Stunden später am | |
| Telefon gegenüber Keune, „dass die Kommunikation so plötzlich abgerissen | |
| sei“. Man werde umgehend eine Lösung herbeiführen – kurz gesagt, alle | |
| erforderlichen Kosten würden pauschal übernommen. | |
| ## Scheitern trotz Happy End | |
| Als Preisträger spricht Keune nun, zwei Jahre später, vor dem Publikum des | |
| IHK-Events: „Wie viele Behinderte haben schon eine Staatssekretärin als | |
| Bodyguard?“ Er ist immer noch aufgewühlt, und vor allem möchte er | |
| klarstellen, dass es nichts zu jubeln gibt. Dass es, trotz Happy End, die | |
| Geschichte eines Scheiterns und eben darin exemplarisch für Tausende andere | |
| ist. | |
| Azubi Abasov, mittlerweile im zweiten Lehrjahr, wird nach der Veranstaltung | |
| sagen: „Preis hin oder her. Lieber wäre mir, Menschen in meiner Situation | |
| hätten weniger Probleme, eine Ausbildung zu bekommen.“ Und dann im | |
| Wegfahren: „Wir gehen jetzt wieder arbeiten.“ | |
| 27 Aug 2013 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/?id=467 | |
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