# taz.de -- Inklusiver Unterricht in Köln: Eine träumerisch neue Schule | |
> In Köln entsteht eine Schule, die alles besser machen und alle | |
> einbeziehen will: Behinderte, Ausländer, sozial Schwache. Kann das | |
> funktionieren? | |
Bild: Alle sollen mit einbezogen werden: Ausländer, Behinderte, sozial Schwach… | |
KÖLN taz | Was ist eine gute Schule? Die älteste aller Pädagogenfragen und | |
immer noch aktuell. Auf der einen Seite ein ungerechtes, selektierendes | |
Regelschulsystem, auf der anderen die Privatschulen mit teils esoterischen | |
Konzepten und Missbrauchsfällen. | |
Für viele zum Verzweifeln. Studierende der Universität Köln wollten dies | |
nicht länger hinnehmen – und beschlossen 2008, eine eigene Schule zu | |
gründen. Im Schuljahr 2014/2015 soll sie eröffnet werden: die Inklusive | |
Universitätsschule Köln. | |
Frustration und Enthusiasmus sind eine gute Mischung, wenn es um | |
Veränderung geht. An der Uni Köln kam beides zusammen. Damals gab es in | |
Nordrhein-Westfalen noch Studiengebühren, die zur Verbesserung der Lehre | |
genutzt werden sollten: Daraus entstand „school is open“. Das Projekt gibt | |
Studierenden die Möglichkeit, sich mit alternativen Lehr- und Lernkonzepten | |
auseinanderzusetzen. | |
„Aus all der Kritik entstand schließlich der Wunsch, eine eigene Schule zu | |
gründen“, erinnert sich Evelyn Hinze, die Lehramt für Sekundarstufe I | |
studiert. Eine Schule, an der all die Dinge, die an anderen Schulen | |
schieflaufen, besser gemacht werden sollten. Seitdem trifft sich der | |
Arbeitskreis Schulgründung einmal monatlich. Die Treffen sind offen für | |
alle – Lehrer und Eltern aus der Umgebung der künftigen Schule sowieso, | |
aber auch die Landesschülervertretung oder die Künstler aus der Umgebung. | |
Mittlerweile hat sich das Projekt, trotz Wegfalls der Studiengebühren, | |
entwickelt: Der Pädagogik-Professor Kersten Reich übernahm die | |
wissenschaftliche Leitung des Projekts. Auch die Stadt Köln zeigte | |
Interesse. Denn die Schülerzahlen stiegen, die Stadt braucht neue Schulen. | |
Am besten inklusive Schulen, wie Schuldezernentin Agnes Klein findet. | |
Eigentlich waren die Schulgründer von einer Ersatzschule, also einer | |
Privatschule ausgegangen. | |
## Vielfalt des Stadtteils | |
Eine öffentliche Schule zu sein entspricht aber dem Selbstverständnis der | |
Beteiligten mehr als eine „elitäre Privatschule“. Die IUS solle, so heißt | |
es unter den Schulträumern, kein Sammelzentrum für die Kinder bildungsnaher | |
Familien aus ganz Köln werden. Vielmehr soll sie „die ganze Vielfalt des | |
Stadtteils abbilden“, betont Silke Kargel, Geschäftsführerin von „school … | |
open“. Kinder aus dem Stadtteil werden bevorzugt aufgenommen. | |
Der Stadtteil, in dem die Schule gebaut werden soll, ist denn auch | |
besonders bunt. Ehrenfeld, ein ehemaliger Arbeiterbezirk mit hohem Anteil | |
migrantischer Bevölkerung, zog in den letzten Jahren viele Studierende und | |
Künstler sowie Akademikerfamilien an. An der Inklusiven Universitätsschule | |
sollen alle gemeinsam lernen, wirklich inklusiv, wie der pädagogische | |
Fachbegriff heißt. „Inklusion beschränkt sich nicht auf Kinder mit | |
Behinderung, sondern erfasst sämtliche Merkmale, die zu Ausgrenzung | |
beitragen, von Geschlecht bis Religion“, sagt Kargl. | |
Unter dem Motto „Eine Schule für alle“ soll jedes Kind individuelle | |
Förderung bekommen. Einig ist sich der Arbeitskreis bei vielen Themen: | |
Noten und Sitzenbleiben wird es nicht geben. Alle bleiben von der ersten | |
bis zur dreizehnten Klasse zusammen. „Wir wollen keine Selektierung. Das | |
ist absurd. Die Energie, Kosten und Mühen, die für das Aussortieren | |
draufgehen, sind im gemeinsamen Unterrichten viel besser angelegt“, sagt | |
Schulgründerin Kargl. | |
Freilich gibt es Teilnehmer in der Runde, die bemängeln, dass man sich | |
bislang noch gar nicht über den Unterricht unterhalten hat. „Hier wurde | |
schon alles diskutiert“, sagt ein Beobachter, „nur das Kerngeschäft von | |
Schule nicht: Wie wollen wir lernen?“ | |
Statt starrer Einteilung in Fächer wie Mathe, Bio und Deutsch soll das | |
Lernen an Themen ausgerichtet sein. So viel weiß man schon. Bei den | |
Grundlagen sind sich die Schulplaner einig. Über den Tag verteilt soll es | |
fest strukturierte Unterrichtseinheiten sowie Zeiten für selbstständiges | |
Lernen geben. | |
Theater, Rollenspiel und Bewegung als Bestandteil des Lernalltags. Auch auf | |
demokratische Bildung und Schulkritik legen die Verfechter der inklusiven | |
Bildung Wert. „Die Kinder sollen früh lernen, für sich selbst zu sprechen | |
und ihre Stimme nicht bloß an einen Vertreter abzugeben“, so Kargl. Ob es | |
um längere Pausenzeiten oder die Gestaltung des Unterrichts geht, jeder | |
kann Vorschläge und Anregungen einbringen, über die in der Schulversammlung | |
basisdemokratisch abgestimmt wird. Kind oder Erwachsener – jede Stimme | |
zählt gleich. | |
Allerdings gibt einen heiklen Punkt. Beim Thema Missbrauch reagieren alle | |
Beteiligten geradezu allergisch. Die sexuelle Gewalt an der | |
reformpädagogischen Odenwaldschule scheint die Pädagogenzunft ins Mark | |
getroffen zu haben. An der Unischule soll daher von Anfang an eine | |
intensive „Rückmeldekultur“ herrschen, wie es Dieter Asselhoven, | |
wissenschaftlicher Mitarbeiter des Projekts, formuliert. | |
Von einer Verpflichtungserklärung, die alle Lehrenden unterschreiben | |
sollen, erhofft er sich abschreckende Wirkung – weil sich Pädophile | |
vielleicht gar nicht erst bewerben würden. Der Fokus auf Teamarbeit soll | |
die Schule zusätzlich sicherer machen sowie die transparente Gestaltung der | |
Lernräume: offene Bereiche mit verschiebbaren Trennwänden und viel Glas | |
statt der üblichen Klassenzimmer. Insgesamt soll die Fähigkeit der | |
Selbstbeobachtung aller Beteiligten gestärkt werden. | |
## Toiletten für alle | |
Die Kölner Unischule ist in vielerlei Hinsicht ein Traumprojekt, fast ein | |
träumerisches. Manche Details der Raumplanung etwa sind schon genau | |
ausgearbeitet, dabei steht die Schule noch gar nicht. Alles sollen offen | |
sein und bunt gemischt. Selbst bei den Waschräumen sollen dereinst keine | |
Unterschiede gemacht werden. | |
Das heißt: Es soll Uni-Sex-Toiletten geben, Klos für Mädchen und Jungen. | |
Kabinen mit Pissoirs oder Sitztoiletten sowie große Kabinen für | |
Rollstuhlfahrer befinden sich im gleichen Raum. „Uns ist die | |
Geschlechterfrage wichtig“, sagte Asselhoven der taz, „die Kinder sollen | |
sich frei für eine Geschlechterrolle entscheiden können.“ | |
Indessen ist das Schulgebäude noch in weiter Ferne. Die Stadt ist noch in | |
Kaufverhandlungen mit dem Investor, der aber großes Interesse habe. | |
Erworben werden soll ein Teil des Heliosgeländes, einer ehemaligen | |
Lampenfabrik. Ein Teil der Gebäude auf dem Gelände ist denkmalgeschützt, | |
wie das alte Fabrikgebäude mit Leuchtturm, dem Markenzeichen des Areals. | |
Ein Möbelhaus, Künstlerateliers, ein ehemals sehr alternativer Club und ein | |
Fitnessstudio finden sich dort, auch eine Burger-King-Filiale und | |
Parkplätze. Industriecharme, viele Graffiti, viel Asphalt. | |
Eine BürgerInnenversammlung stimmte längst für die Superinklusions-Schule. | |
„Die Idee der Schulgründung wurde im Stadtteil sehr positiv aufgenommen und | |
von der Bürgerinitiative unterstützt“, schwärmt die Studentin Evelyn Hinze. | |
Schon jetzt finden Seminare und Workshops mit den auf dem Heliosgelände | |
angesiedelten Künstlern statt. | |
Den Aktiven von „school is open“ ist wichtig, dass niemand wegen der Schule | |
vertrieben wird. Man suche gemeinsam nach Lösungen. Die Künstler sollten | |
möglichst in ihren Räumlichkeiten bleiben und später mit der Schule | |
zusammenarbeiten. | |
Klassen im herkömmlichen Sinn soll es gar nicht geben. Vielmehr werden die | |
Jahrgänge in Häusern oder Lernbereichen zusammengefasst. Über die | |
Begrifflichkeiten ist man sich noch nicht ganz einig. Die Lehrenden mischen | |
die SchülerInnen eines Jahrgangs oder auch mal jahrgangsübergreifend, je | |
nach Fähigkeiten und Lernfortschritt. Diagnostik statt Mathetests. Die | |
Lehrpersonen treffen mit jedem Kind und dessen Eltern individuelle | |
Zielvereinbarungen. | |
Dennoch werde die Unischule keine Waldorfschule. „Schulabschlüsse müssen | |
bestanden werden“, sagt Professor Reich. Natürlich die höchstmöglichen. | |
Einen AbiturientInnenanteil von 75 Prozent will der wissenschaftliche | |
Leiter erreichen. Im Bundesschnitt liegt die Quote bei 30 Prozent. | |
## Lehre und Forschung in Einem | |
Vieles, was sich im Konzept der Schulgründer findet, ist gar nicht so neu. | |
Es sind ja auch nicht alle staatlichen Schulen schlecht, müssen selbst die | |
Schulgründer zugeben. Was es in Deutschland nur ein einziges Mal gibt, ist | |
die Verknüpfung von Lehre und Forschung in der Schule. Bislang gibt es eine | |
solche „Versuchsschule“: die Laborschule Bielefeld. | |
Auch der IUS sollen die Wissenschaftler alle Erfahrungen mit dem neuen | |
Schulkonzept analysieren und die Entwicklung der Schule begleiten. So kann | |
die Schule ständig weiterentwickelt werden. Dabei könnte auch mit | |
Videomitschnitten gearbeitet werden, die den Unterricht streckenweise | |
aufnehmen und von den Wissenschaftlern ausgewertet werden sollen. | |
„Dass die Lernenden 13 Jahre in der Schule bleiben, eröffnet der Forschung | |
ganz neue Möglichkeiten“, schwärmt Kersten Reich. Man könne die | |
Lernbiografie so über die ganze Schulzeit verfolgen, das mache langfristige | |
Projekte erst möglich. Jedes Forschungsvorhaben müsse aber vom Schulbeirat | |
genehmigt werden. Wichtigstes Kriterium: Nutzen für die Schule und deren | |
Weiterentwicklung. Die Forscher sollen etwas an Lehrer und Schüler | |
zurückgeben. | |
21 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Franziska Haack | |
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