# taz.de -- Inklusion in der Bildung in NRW: Behindernde Schulen | |
> Behinderte Schüler dürfen in NRW ab August allgemeine Schulen zu | |
> besuchen. Doch statt sich vorzubereiten, streiten sich Land und Kommunen. | |
Bild: Geht auch ohne Probleme: gemeinsames Lernen in Neuss | |
KÖLN taz | Jonas’ Bewerbungsmappe enthält Fotos und einen Steckbrief, den | |
er selbst ausgefüllt hat. Dem können seine potenziellen LehrerInnen | |
entnehmen, dass sein Lieblingsfach Lesen und sein Lieblingsspiel Memory | |
ist. Jonas besucht derzeit die vierte Klasse einer Grundschule, im Herbst | |
steht der Wechsel an eine Oberschule an. An sieben Schulen hat er sich | |
vorgestellt. Doch einen Platz für das kommende Schuljahr hat Jonas bislang | |
nicht gefunden. | |
„Mama, mich will ja sowieso keine Schule“, sagt Jonas jetzt oft. „Es ist | |
fast wie bei einem Schulcasting“, sagt seine Mutter Susanne Schiffer-Graaf. | |
Jonas hat das fragile X-Syndrom, eine genetische Veränderung. Die Folge ist | |
eine schwere Lern- und Entwicklungsstörung. | |
Für Kinder wie Jonas sollte das eigentlich kein Hindernis mehr sein. | |
Deutschland hat bereits 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention | |
ratifiziert. Das bedeutet, dass Schüler mit Bedarf an sonderpädagogischer | |
Unterstützung das Recht auf einen Platz an einer allgemeinen Schule haben, | |
wenn ihre Eltern das wünschen. Die Bundesländer sind nun verpflichtet, ihre | |
Schulgesetze anzupassen und Voraussetzungen für den gemeinsamen Unterricht | |
zu schaffen. Doch der Umbau des Schulsystems kostet Geld, nach einer Studie | |
des Bildungsforschers Klaus Klemm werden bundesweit bis zu 660 Millionen | |
Euro pro Jahr zusätzlich gebraucht. | |
In Nordrhein-Westfalen, wo Schüler der ersten und fünften Klassen ab August | |
einen Rechtsanspruch auf Inklusion haben, streiten sich Land und Kommunen | |
derzeit über die Kosten. Die Kommunen wollen von der grünen | |
Bildungsministerin Sylvia Löhrmann die Zusage, dass das Land alle durch die | |
Inklusion entstehenden zusätzlichen Kosten übernimmt. Einen Blankoscheck | |
will das Ministerium jedoch nicht ausstellen. Es verweist auf 850 Millionen | |
Euro, die das Land in den kommenden drei Jahren zur Verfügung stellt. | |
Mittlerweile hat Löhrmann weitere 175 Millionen Euro in Aussicht gestellt. | |
Viele Kommunen akzeptieren das. Aber 184 erwägen nach wie vor wegen der | |
fehlenden Finanzierungszusicherung eine Verfassungsklage, heißt es beim | |
Städte- und Gemeindebund NRW. Ende März gibt der Verband eine Empfehlung in | |
dieser Frage ab. Den Rechtsanspruch auf Inklusion würden Klagen nicht | |
berühren, aber die Stimmung weiter verschlechtern. | |
## Die Schulen reagieren reserviert | |
In NRW besuchen von den 128.000 SchülerInnen mit sonderpädagogischem | |
Förderbedarf derzeit 94.000 eine Sonderschule. Schon vor der Einschulung | |
war es für Jonas’ Eltern schwierig, eine allgemeine Schule für ihn zu | |
finden. Jonas sollte nicht auf eine Förderschule, sondern gemeinsam mit | |
Kindern ohne Handicap lernen. | |
Die Suche nach einer weiterführenden Schule, die ihren Sohn aufnimmt, ist | |
für Jonas’ Eltern trotz Rechtsanspruch noch mühsamer. „Die Schulen | |
reagieren reserviert“, berichten die Graafs. Einige Schulen verlangen, dass | |
Jonas bei ihnen hospitiert. Alle hätten Bedenken – bis auf eine, doch dort | |
gab es mehr Anmeldungen als Plätze. „Statt etwas vor Ort zu verändern, | |
investieren die Schulen viel Kraft, um uns Eltern zu erklären, warum unser | |
Kind bei ihnen nicht unterrichtet werden kann“, sagt Susanne Schiffer-Graaf | |
und ist überzeugt: „Viele wollen Inklusion aussitzen, nicht umsetzen.“ | |
Solche Erfahrung machten nicht wenige Eltern, bestätigt Eva Maria Thoms vom | |
Kölner Elternverein mittendrin e. V. Dass sich Kommunen und Land über Geld | |
streiten, findet Elternaktivistin Thoms eigentlich gut. „Aber die Kommunen | |
tun so, als sei Inklusion eine gigantische Aufgabe, die finanziell nicht zu | |
stemmen ist“, sagt sie. „Das finden wir diskriminierend.“ | |
Der Streit über die Finanzierung hat für Städte und Gemeinden den Vorteil, | |
dass er von eigenen Versäumnissen ablenkt. In Ratingen bei Düsseldorf sei | |
keine einzige Schule auf die Inklusion vorbereitet, sagt Karin Keune, die | |
einen Platz an einer allgemeinen Schule für ihren geistig behinderten Sohn | |
sucht. „Die Stadt hat bis zum Schluss gepokert, dass die Inklusion doch | |
nicht kommt.“ Auch ihr Sohn besucht derzeit die vierte Klasse der | |
Grundschule. | |
Das Schulamt hat ihr eine Liste mit weiterführenden Schulen gegeben, doch | |
hätten diese kein Konzept für den gemeinsamen Unterricht. Stattdessen heißt | |
es: „Wenn im Sommer die Sonderpädagogin kommt, schauen wir mal, wie das | |
läuft.“ Keune befürchtet, dass ihr Sohn letztlich auf einer Förderschule | |
landet, weil sich keine allgemeine Schule vorbereitet. | |
## „Schlechte Stimmung“ an den Schulen | |
Viele Gesamtschulen praktizieren das gemeinsame Lernen indes seit vielen | |
Jahren. Auf so eine Gesamtschule möchte der neunjährige Johannes gehen. Um | |
sich fortzubewegen, braucht Johannes einen Rollator, er ist gehbehindert. | |
Doch die inklusive Gesamtschule, die ab dem nächsten Schuljahr seine | |
Freunde aufnimmt, hatte keinen Platz für ihn. Der Grund: Sie ist zu weit | |
entfernt von seinem Zuhause. „Förderkinder dürfen in Bonn faktisch nur in | |
eine wohnortnahe Schule“, sagt seine Mutter. | |
Das Schulamt wies Johannes, der eine Gymnasialempfehlung hat, zunächst | |
einen Platz an einem Gymnasium ohne Aufzug zu. „Auch die Schulleitung war | |
der Meinung, dass die Schule für meinen Sohn nicht geeignet ist“, sagt die | |
Mutter. Nun hat Johannes einen Platz an einem barrierefreien Gymnasium in | |
Aussicht. Aber sie hofft, doch noch einen Weg zu finden, damit er die | |
Gesamtschule besuchen kann. | |
Nicht nur Eltern, auch PädagogInnen blicken dem nächsten Schuljahr mit | |
Unbehagen entgegen. „Die Stimmung an den Schulen ist schlecht“, sagt ein | |
Förderschullehrer aus Westfalen. Dabei waren die KollegInnen ursprünglich | |
mit Begeisterung für die Inklusion. „Aber die positive Stimmung ist | |
gekippt“, sagt er. | |
Aus Sicht vieler PädagogInnen kommt die Inklusion überstürzt. Bestehende | |
Strukturen brechen weg, ohne dass neue aufgebaut werden. LehrerInnen an | |
Förderschulen haben Angst davor, gegen ihren Willen versetzt zu werden. | |
Fest steht, dass viele Förderschulen geschlossen werden. Wenn die Kollegien | |
zerfallen, werde viel Know-how verloren gehen, fürchtet der Pädagoge. „Wir | |
brauchen Fachzentren für Inklusion, damit die Kolleginnen sich austauschen | |
und fortbilden können“, sagt er. Doch solche sind bislang nicht vorgesehen. | |
12 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Anja Krüger | |
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