# taz.de -- Durststreik der Flüchtlinge: Reihenweise Zusammenbruch | |
> Die Hungerstreikenden vom Brandenburger Tor geben nicht auf – obwohl | |
> immer mehr von ihnen kollabieren. Bundespolitik zeigt keine | |
> Gesprächsbereitschaft. | |
Bild: Gefährlicher Einsatz: Mindestens sieben Menschen kollabierten am Mittwoc… | |
Die Situation der Hunger- und Durststreikenden am Pariser Platz spitzt sich | |
weiter zu. Am Mittwoch mussten mindestens sieben Menschen nach einem | |
Kreislaufkollaps ins Krankenhaus gebracht werden. Tags zuvor waren es neun. | |
Angesichts der Dramatik versuchte die neu gewählte grüne | |
Bundestagsabgeordnete Luise Amtsberg ein Gespräch zwischen den Flüchtlingen | |
und einem Vertreter des Bundesinnenministeriums zu vermitteln – erfolglos. | |
Essen. Brook Tadele träumt davon: „All die schönen Dinge, die ich früher | |
gekocht habe!“ Der Äthiopier ist gelernter Koch, jetzt isst er nichts mehr, | |
seit acht Tagen, seit drei Tagen trinkt es nichts. Für ihn ist es nicht der | |
erste Hungerstreik. Schon im Sommer auf dem Rindermarkt in München war er | |
dabei. Doch die Bedingungen auf dem Pariser Platz sind schlechter. Die | |
Polizei erlaubt keine Zelte. Auch die Politik reagiert bisher nicht auf die | |
Forderungen der Flüchtlinge: „In München gab es viele Verhandlungen, hier | |
kommt niemand vorbei.“ Tadele ist frustriert, hat aber Hoffnung. „Unsere | |
Gruppe ist immer noch stark.“ | |
## Von Touristen beobachtet | |
Seit dem 9. Oktober befinden sich auf dem Pariser Platz 29 Flüchtlinge aus | |
Afghanistan, Äthiopien, Pakistan, Sierra Leone und Senegal im Hungerstreik, | |
seit Montag verweigern sie zusätzlich auch das Trinken. Sie fordern die | |
Anerkennung ihrer Asylanträge. | |
Aufmerksamkeit ist den Flüchtlingen am Pariser Platz sicher. Viele | |
Touristen kommen vorbei, machen erst ein Foto vom Brandenburger Tor, dann | |
eins von den Flüchtlingen in ihren Schlafsäcken. Regenschirme dienen den | |
Streikenden als unzureichender Schutz gegen Regen und neugierige Blicke. | |
Zwei Polizisten schlendern um die Szenerie und beobachten die Flüchtlinge, | |
schreiben mit, wenn einer von ihnen vom Krankenwagen abtransportiert wird. | |
Beeindruckt vom Durchhaltewillen der Flüchtlinge, aber auch ratlos, wie es | |
weitergehen soll, zeigt sich Canan Bayram, grüne Abgeordnete im Berliner | |
Abgeordnetenhaus. Sie war am Mittwoch zusammen mit Amtsberg bei den | |
Flüchtlingen. „Sie wirken sehr entschlossen“, so ihre Einschätzung. Ein | |
Gespräch wie beim Hungerstreik im vorigen Jahr mit der | |
Bundesintegrationsbeauftragten Maria Böhmer, die zwar Verständnis zeigte, | |
aber nichts entscheiden konnte, werde die Menschen wohl nicht zum Aufhören | |
bewegen, befürchtet sie. „Sie wollen mit Entscheidern sprechen.“ Dennoch, | |
so Bayram, hätten die Flüchtlinge sich bereit erklärt wieder zu trinken, | |
sobald von Seiten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BaMF) | |
Gesprächsbereitschaft signalisiert würde. | |
Daraufhin schrieb die neu gewählte grüne Bundestagsabgeordnete Luise | |
Amtsberg noch am Mittwoch einen Brief an den Bundesinnenminister, dem das | |
BaMF unterstellt ist. In dem Schreiben, das der taz vorliegt, bittet sie | |
„angesichts der sich stündlich weiter zuspitzenden Situation“ der Gruppe | |
„zeitnah ein Gesprächsangebot zu unterbreiten“. Ein Sprecher des | |
Bundesinnenministeriums lehnte dies gegenüber der taz allerdings ab. „Das | |
Asylrecht ist ein rechtsstaatliches Verfahren, das ist für alle gleich.“ | |
Wie lange der Streik noch weitergeht, ist völlig offen. Einen Durststreik | |
können Menschen normalerweise nur wenige Tage durchstehen. Wie das jedoch | |
ist, wenn die Betreffenden zwischenzeitlich im Krankenhaus „aufgepäppelt“ | |
werden, kann niemand sagen. Die Polizei will von sich aus jedenfalls nicht | |
tätig werden. Es gebe keine Pläne, den als Dauermahnwache genehmigten | |
Streik zu beenden, sagte ein Polizeisprecher, „solange die Personen bei | |
Bewusstsein sind“. | |
Einer von denen, die dafür sorgen, dass die Flüchtlinge versorgt werden, | |
ist Jürgen Hölzinger. Der Arzt in Rente hatte früher eine Praxis in | |
Steglitz. Zum Brandenburger Tor kommt er aus Pflichtgefühl. "Die Zustände | |
hier sind chaotisch". Er trägt keinen Kittel, sondern Jeans und schwarze | |
Jacke, zur Untersuchung hat er nicht viel mehr als ein Stethoskop dabei. Er | |
kritisiert, dass nicht ständig ein Arzt am Brandenburger Tor präsent ist | |
und den Gesundheitszustand der Flüchtlinge überprüft. Erst wenn ein | |
Flüchtling kollabiert, rufen Unterstützer oder die Polizei einen | |
Rettungswagen. Deshalb ist Hölzinger heute selbst hier und leistet Erste | |
Hilfe: Er misst den Puls und überprüft die Augen der Flüchtlinge, die in | |
ihren Schlafsäcken liegen und ausharren. | |
Hölzinger hat sich beim Bezirk erkundigt und das Gesundheitsamt angerufen | |
und sie aufgefordert, einen Arzt zu schicken: "Aber keiner fühlt sich | |
zuständig." Er wird unterbrochen, als einer der auf dem Boden liegenden | |
Flüchtlinge nicht mehr reagiert. Hölzinger und ein anderer Flüchtling eilen | |
herbei und öffnen seine Augenlider, dann wird ein Rettungswagen gerufen. | |
Von den sieben Flüchtlingen, die am Mittwoch ins Krankenhaus gebracht | |
werden, ist mindestens einer bereits zum zweiten Mal kollabiert. | |
Am Dienstag hatte es auch Suleiman Barrie getroffen. Er trägt ein | |
Plastikband mit einer Patientennummer um den Arm. „Ich kann mich nicht mehr | |
erinnern, was passiert ist. Aufgewacht bin ich im Rettungswagen.“ Im | |
Krankenhaus hat er eine Infusion bekommen, die Ärzte haben ihn | |
aufgefordert, den Hunger- und Durststreik zu beenden. Doch er sitzt wieder | |
auf dem Pariser Platz, hat aufgesprungene Lippen und sagt: „Wir müssen | |
weitermachen, wir wollen nicht zurück in die Lager.“ Zum Abschied gibt er | |
einen schwachen Händedruck. | |
16 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Kersten Augustin | |
Susanne Memarnia | |
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