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# taz.de -- Mindestlohn in Deutschland: Experiment mit offenem Ausgang
> Ein Mindestlohn von 8,50 Euro brächte jedem sechsten Arbeitnehmer
> plötzlich mehr Geld. Doch der Mindestlohn hat Tücken, die niemand
> abschätzen kann.
Bild: Mehr Brutto: Auch in der Gastronomie könnte der Mindestlohn helfen.
BERLIN taz | Das Argument mit den Iren und ihren Kneipen kann Dirk Ellinger
nicht mehr hören. Die Iren haben einen nationalen Mindestlohn von 8,65 Euro
die Stunde. Und da sollten sich die Deutschen nicht so haben mit ihren 8,50
brutto, um die man derzeit streitet, sagen Gewerkschafter. Aber Ellinger,
Hauptgeschäftsführer des Hotel- und Gaststättenverbandes Dehoga in
Thüringen, sieht das ziemlich anders.
„Die Iren haben ein anderes Preis- und Einkommensniveau und weniger
Sozialleistungen. Für unsere Branche hier wäre ein Mindestlohn von 8,50
Euro dramatisch“, sagt Ellinger. „Das Kneipensterben wäre vorprogrammiert.…
Er vertritt über 1.400 Hotels, Gaststätten, Restaurants, Bahnhofskneipen in
Thüringen. „Viele kleine Betriebe haben nicht die Ertragskraft für einen
solchen Lohn“, meint er.
Der Streit über den Mindestlohn lässt die Gefälle in der Wirtschaft
hervortreten – nicht nur zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten, sondern
auch zwischen großen und kleinen Betrieben, zwischen West und Ost, zwischen
exportstarker Industrie und kleinen Dienstleistern. 8,50 Euro die Stunde
als untere Lohnuntergrenze: Das wird ein Experiment mit Verschiebungen,
Verzerrungen, Gewinnern und auch ein paar Verlierern.
Fünf Millionen Menschen in Deutschland verdienen weniger als 8,50 Euro
brutto in der Stunde, schreibt das Institut für Wirtschaftsforschung in
Halle. Keinesfalls handelt es sich dabei fast nur um hinzuverdienende
RentnerInnen, Schüler oder Hausfrauen. Laut einer Studie des Deutschen
Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) gibt es unter den Kleinverdienern
mit weniger als 8,50 Euro die Stunde immerhin 40 Prozent Vollzeitkräfte.
## Typische Branchen für Niedriglöhne
In bestimmten Branchen und Regionen häufen sich die Niedrigverdiener: So
ackern im Gastgewerbe im Osten zwei Drittel des Personals zu einem Lohn von
unter 8,50 Euro die Stunde. Auch in der Land- und Forstwirtschaft und im
Handel arbeiten überproportional viele Kleinverdiener. Dazu gehören auch
die Zeitungszusteller. Aus den Vorgaben zum Stücklohn errechnet sich etwa
in München „ein Stundenlohn zwischen 3,50 Euro und 7,50 Euro“, sagt Helmut
Thanner, Mitglied der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di und Betriebsrat in
einem Münchner Zustellunternehmen.
Käme es zu einem gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro die Stunde, müsste
laut DIW ein Sechstel aller Arbeitnehmer einen höheren Stundenlohn
erhalten. Ein gesetzlicher Mindestlohn hebt zudem in manchen Betrieben das
gesamte Lohngefüge.
„Die angelernten Kräfte in der Küche und im Reinigungsbereich bekommen laut
Tarif 7,30 Euro“, rechnet Ellinger vor. Gelernte Kellner kriegen 8,50 Euro.
Wenn man die unterste Stufe anhebt, müsste man auch den Lohn der Kellner
etwas steigern, um einen Unterschied beizubehalten.
„Wir kommen damit auf lineare Tariferhöhungen von 20 Prozent“, sagt der
Dehoga-Hauptgeschäftsführer. Umgerechnet ergebe dies etwa einen
Preisaufschlag von 7 Prozent. Ellinger befürchtet: „Steigen die Preise,
sagen die Leute: Dann gehe ich eben nicht in die Kneipe.“
Doch in welchen Bereichen höhere Preise vom Kunden akzeptiert werden und wo
nicht, ist eine offene Frage. Immerhin steigt mit einem Mindestlohn auch
die Kaufkraft, wenn auch nicht erheblich. Laut DIW kommt es bei einer
Lohnuntergrenze von 8,50 Euro zu einer Bruttolohnsteigerung von
durchschnittlich 3 Prozent.
## Kaum Arbeitsplatzabbau
Zudem gibt es noch andere Möglichkeiten, höhere Personalkosten zu
kompensieren. Dazu hat man Erfahrungen mit den Mindestlöhnen in bestimmten
Branchen. In Wäschereien mit gewerblichen Kunden etwa wurde ein Mindestlohn
eingeführt. Daraufhin musste ein Drittel der Betriebe die Löhne erhöhen.
Nennenswerte Auswirkungen auf die Beschäftigung konnten bei den Wäschereien
„nicht festgestellt werden“, heißt es in einem Überblick des Instituts f�…
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).
Die Betriebe senkten an anderen Stellen die Kosten und versuchten, die
Produktivität zu erhöhen. Auch für die seit 16 Jahren existierenden
Mindestlöhne im Bauhauptgewerbe ließen sich „keine oder nur sehr geringe
Folgen“ für die Beschäftigung inländischer Arbeitnehmer nachweisen,
schreibt das IAB.
Dabei rechnen Experten mit Ausweichbewegungen in den Arbeitsverhältnissen,
um den höheren Lohnkosten für abhängig Beschäftigte zu entgehen.
Möglicherweise halten sich viele Imbisse dann nur noch als Ein-Mann-Betrieb
am Markt, und die nächste Diskussion über Scheinselbständigkeit entsteht.
„Es gibt dann vielleicht auch mehr Familienbetriebe“, sagt Remzi Kaplan,
Dönerproduzent in Berlin und im Vorstand der Türkisch-Deutschen
Unternehmervereinigung. Betriebe mit „mithelfenden Familienangehörigen“
müssen der Verwandtschaft keinen gesetzlichen Mindestlohn zahlen.
## Unbezahlte Überstunden
Branchen, die mit Stücklöhnen arbeiten, könnten zudem durch überhöhte
Vorgaben indirekt die Entlohnung drücken: Die Vorgaben müssten dann mit
unbezahlten Überstunden abgearbeitet werden. Dies passiert derzeit in der
Gebäudereinigung, die bereits einen Branchenmindestlohn hat, aber nach
geputzten Quadratmetern abrechnet. Bei den Zeitungszustellern müssten im
Falle eines Mindestlohnes die Berechnungssysteme nach realistischen
Vorgaben „angepasst werden“, betont Betriebsrat Thanner.
In Irland sind mit dem Mindestlohn keine Jobs verloren gegangen, der
Lohnabstand zwischen Frauen und Männern verringerte sich, berichtete John
Douglas, Präsident des Irish Congress of Trade Unions, unlängst in Berlin.
Die Iren stiegen im Jahr 2000 allerdings mit einem nationalen Mindestlohn
von nur 4,40 Pfund ein, umgerechnet etwa 5,60 Euro.
In Frankreich mit einer Lohnuntergrenze von 9,43 Euro kreist durchaus die
Diskussion um dadurch bedingte Jobverluste. Studien dazu gebe es aber kaum,
sagte Jérome Gautié, Direktor des arbeits- und sozialwissenschaftlichen
Instituts an der Sorbonne, auf einer Tagung in Berlin. In Frankreich
bekommen die Arbeitgeber hohe Subventionen für die
Sozialversicherungsbeiträge zum Mindestlohn. Auch deswegen halten sie
still.
22 Oct 2013
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
## TAGS
Mindestlohn
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