| # taz.de -- Armutsjob Zeitungszusteller: Ein Job wie Flaschensammeln | |
| > Zeitungszusteller gehören zu den Armutslöhnern in Deutschland: Vier Cent | |
| > bekommt Irina Feldmann pro „gesteckter“ Tageszeitung. | |
| Bild: Großer Stapel, kleiner Ertrag. | |
| BERLIN taz | Hausnummer 18, das sind fünf Abonnenten auf einen Schlag. | |
| Immerhin. Irina Feldmann* sucht einen Schlüssel aus ihrem dicken Bund | |
| heraus und schließt die Eingangstür auf zum Mietshaus in Berlin-Köpenick. | |
| Sie steckt eine Fußballzeitung und vier Tageszeitungen in die Briefkästen | |
| des Neubaus. „20 Cent verdient“, sagt die Botin. Es kann schlechter kommen. | |
| Zum Beispiel in der Nummer 24, etwa 20 Meter Wegstrecke entfernt. Nur zwei | |
| Abonnenten bekommen dort eine Zeitung, in einem Aufgang mit zwanzig | |
| Briefkästen. Hinlaufen, Schlüssel heraussuchen, aufschließen. Die Namen auf | |
| den Briefkästen mit den Namen auf dem Tourenzettel vergleichen. „Kowalski“ | |
| und „Meier“ haben abonniert. | |
| Feldmann faltet die Zeitungen mit geübtem Griff zusammen und schubst sie in | |
| die Kästen hinein. Tief hinein, denn „anstecken“, so dass das Papier | |
| klaugefährdet herausragt, ist nicht erlaubt. Zwei Zeitungen, das macht 8 | |
| Cent Zustellerverdienst. | |
| Beträge sind das wie beim Sammeln von Pfandflaschen. Dabei handelt es sich | |
| hier um einen Arbeitsplatz. Aber wer wissen will, warum in einem | |
| sogenannten Hochlohnland Leute um vier Uhr früh für einen Stundenlohn von 3 | |
| Euro brutto aufwärts Zeitungen durch die bitterkalte Nacht tragen und mit | |
| klammen Fingern in Briefkästen stecken, der sollte sich Geschichten anhören | |
| wie die von Feldmann, eine von 4.000 ZustellerInnen in Berlin. | |
| Feldmann zieht seit sieben Jahren frühmorgens ein bis zwei Stunden durch | |
| die kopfsteingepflasterten Straßen im Ortsteil Köpenick, weit im Berliner | |
| Osten, wo sie auch wohnt. Meist schiebt die 48-Jährige das blaue Wägelchen | |
| der Zusteller vor sich her. Manchmal fährt sie die Strecke auch mit dem | |
| Auto ab. Eine Gegend mit Mietshäusern in Plattenbauweise, wo Arbeiter, | |
| Angestellte, Rentner, Arbeitslose leben. Viele Arbeitslose. Die weißen | |
| Blechbriefkästen in den kahlen Hausfluren sehen überall gleich aus. | |
| Wenigstens muss man hier nicht – wie in manchen Berliner Altbauten – die | |
| Wohnungen einzeln abklappern, weil es keine Briefkästen unten im Flur gibt. | |
| Feldmann steht in der Früh um halb vier Uhr auf. Am Vorabend geht sie um | |
| neun Uhr ins Bett. Einen „Tatort“ bis zu Ende gucken ist bei diesem | |
| Rhythmus nicht drin. „Man gewöhnt sich dran“, sagt die Botin. | |
| ## Die Aufstocker | |
| 4 Cent Stücklohn gibt es pro Zeitung. Die neue Tour macht sie noch nicht | |
| lange, sie ist mit nur 60 Abonnenten in 40 Aufgängen „wenig beliebt“, meint | |
| die lebhafte Frau mit den warmen braunen Augen und den von der Kälte | |
| geröteten Wangen. | |
| In einer Stunde 60 Zeitungen „stecken“, wie es im Zustellerjargon heißt: | |
| Das macht für sie inklusive Nachtzuschlag 3 Euro Stundenlohn. Bei sechs | |
| Zustelltagen in der Woche sind das 72 Euro im Monat. Ein Hungerlohn, klar, | |
| aber „80 Prozent der Zusteller sind Aufstocker“, schätzt Feldmann. Wer | |
| Hartz IV bekommt, für den zählt jeder Euro. 100 Euro darf man | |
| hinzuverdienen, ohne dass das Geld vom Jobcenter angerechnet wird. | |
| Auch Feldmann bekommt Leistungen nach Hartz IV. Die Zeiten waren mal besser | |
| für sie. Ihre alte Tour zum Beispiel, so erzählt sie, brachte mit 120 | |
| Zeitungen und Kilometergeld etwa 175 Euro im Monat als Hinzuverdienst. Die | |
| gelernte Betriebswirtin, Ehefrau und Mutter zweier Kinder arbeitete damals | |
| tagsüber zusätzlich als Disponentin im Büro einer Holzfirma. Ihr Mann hatte | |
| einen Job bei der Bahn. Ohne den Hinzuverdienst durch das Zeitungsaustragen | |
| „hätten wir uns kein Auto leisten können“, erzählt Feldmann. Von Hartz IV | |
| war damals in der Familie nicht die Rede. | |
| ## Eine Branche im Umbruch | |
| Doch irgendwann kamen die Probleme. Als ihr Mann erkrankte, pflegte | |
| Feldmann ihn bis zum Tode. Ihr Bürojob ging verloren, ein neuer war nicht | |
| in Sicht, auch keine Tätigkeit anderswo. „Man wird ja auch älter“, sagt | |
| sie, „und bei Aldi, da nehmen sie doch keinen mehr über 40.“ | |
| Nur das Austragen der Zeitungen, das blieb. Wenngleich auch nicht mehr zu | |
| den alten Bedingungen. Denn Abonnenten gedruckter Zeitungen gibt es immer | |
| weniger in Zeiten des Onlinejournalismus, die Branche ist im Umbruch, und | |
| so bleiben immer weniger Zeitungen auszutragen pro Kilometer und pro | |
| Treppenhaus – bei einem Stücklohn, der zumindest bei Feldmann „immer gleich | |
| blieb“. | |
| Nach einer Pause beim Zustellen, auch aus gesundheitlichen Gründen, verlor | |
| sie die längere Tour. Jetzt hat sie nur noch die 2-Kilometer-Runde im | |
| eigenen Stadtteil, die niemand sonst machen möchte. Wer steht schon gerne | |
| für 3 Euro auf. | |
| Der nächste Aufgang, in dem noch zwei Mieter Zeitungen im Abo haben, ist | |
| die Nummer 32. Für den Neubau gibt es einen Generalschlüssel von der | |
| Degewo, der passt auf alle Degewo-Häuser im Bezirk. „Praktisch“, sagt | |
| Feldmann. Da muss man den Schlüsselbund nicht im schummrigen Laternenlicht | |
| durchforsten nach dem richtigen Straßennamen und der Hausnummer. | |
| ## Ja keine Namen verwechseln! | |
| „Ich verdiene mein Geld an der frischen Luft“ lautet der Spruch, mit dem | |
| die Vertriebsgesellschaft BZV um neue Zusteller wirbt. Das immerhin stimmt. | |
| Frische Luft und Bewegung. Bis vor Kurzem ging Feldmanns Schäferhund mit | |
| auf Tour, jeden Morgen. „Das war praktisch die Gassirunde“, erzählt sie. | |
| Der Hund ist inzwischen gestorben. | |
| In der Nummer 40, einem Treppenhaus mit zwei sehr langen Reihen von | |
| Briefkästen steht auf der Namensliste neben „Heinz Storkfeld“ eine eilig | |
| hingetippte Warnung an die Zustellerin: „Achtung! Nicht bei Stolle | |
| stecken!“ Man kann die Leidensgeschichte von Storkfeld ahnen, der die Nase | |
| davon voll hatte, seine Zeitung am Morgen bei Stolle herauszuklingeln und | |
| bei der Agentur die Mahnung auf dem Tourenzettel erwirkte. | |
| Namen zu verwechseln ist für Zusteller so abträglich wie vom Regen nasse | |
| Zeitungen in Briefkästen zu stopfen. „Reklamationen sollte es nicht allzu | |
| viele geben. Sonst ist man den Job los“, sagt Feldmann. | |
| ## Andere kassieren mit | |
| Feldmann ist im Minijob bei der örtlichen Zustellagentur beschäftigt, die | |
| wiederum als Subunternehmer fungiert für die Berliner Vertriebsgesellschaft | |
| BZV, die wiederum von den Verlagen für die Zeitungen Zustellgebühren | |
| bekommt. Nur ein Bruchteil der Zustellgebühren, die die Verlage pro | |
| Abonnent an die Vertriebsfirmen zahlen, kommt allerdings als Stücklohn bei | |
| den Zustellern an. Zwischendrin kassieren andere mit. | |
| Doch irgendwas dagegen unternehmen ist nicht einfach in einer Branche, in | |
| der sich die Subunternehmer verdünnisieren können, wenn es heikel wird. In | |
| Berlin streikten mal ein paar ZustellerInnen. Da machte einfach deren | |
| Agentur dicht, berichtet Feldmann. | |
| Sie kennt natürlich Kolleginnen, eine ist sogar eine Freundin, die trägt | |
| auch aus, hat Kinder und keinen Mann, „die stockt auch auf“, berichtet die | |
| Botin. Und es gibt den 75-jährigen Rentner, der viel länger brauche als die | |
| anderen, schildert sie. So jemand würde bei einem festen Stundenlohn | |
| rausfliegen aus dem Job, ist Feldmann überzeugt. Aber mit der Vergütung | |
| über einen Stücklohn kann es den Zustellagenturen egal sein, wie lange der | |
| alte Herr braucht fürs „Zeitungstecken“. Hauptsache, die Blätter sind bis | |
| sechs Uhr im Kasten. Das ist die Deadline. | |
| 4 Cent Stücklohn, damit steht Feldmann unten in der Lohnhierarchie. In den | |
| westlichen Stadtvierteln liegen die Stücklöhne höher – die Agenturen gehen | |
| davon aus, dass sich im Osten eher AusträgerInnen zu den niedrigen Löhnen | |
| finden lassen. Das erfährt man von Vertriebsleuten, die nicht namentlich | |
| zitiert werden wollen. Wie überhaupt Zustellagenturen und Vertriebsmenschen | |
| lieber nicht offen über Löhne und Arbeitsbedingungen sprechen. | |
| ## Niemand in der Branche redet offen | |
| Schließlich gibt es immer noch Leute, die man ein bisschen mehr auspressen | |
| kann: In Berlin-Neukölln flog mal ein Zusteller auf, der Afrikaner ohne | |
| Arbeitserlaubnis zu geringen Cent-Beträgen für sich Zeitungen verteilen | |
| ließ, berichtet der Vertriebsmann. 10 Prozent der Trägerstellen seien | |
| dauerhaft unbesetzt, die Fluktuation im Job sei hoch. Er hofft jetzt auf | |
| die Rumänen und Bulgaren, die seit Januar als Minijobber angestellt werden | |
| dürfen und schon in den Zustellagenturen vorstellig geworden sind. Gut | |
| deutsch sprechen müsse man ja nicht für den Job, „nur die Buchstaben, die | |
| muss man natürlich kennen“. | |
| Nach einer Stunde hat Feldmann ihre Tour geschafft. In der vierten Straße | |
| im Aufgang Nummer 12 muss sie die Zeitung für „Ilse Laschek“ in den | |
| Briefkasten von „Wolfgang Maier“ stecken. Steht so auf dem Zettel.„Die ist | |
| wohl zu ihrem Freund gezogen“, bemerkt die Botin. | |
| Als Feldmann die Nummer 12 verlässt, müsste sie eigentlich wie bei den | |
| anderen Aufgängen die Haustür wieder hinter sich zuschließen, zweimal | |
| sogar. Die Hausverwaltungen verlangen das so, aus Sicherheitsgründen. „Doch | |
| das macht keiner“, sagt die Trägerin. Kostet zu viel Zeit. Ein bisschen | |
| Freiheit muss man sich nehmen, auch als Botin. | |
| ## Altpapier ist neuerdings attraktiv | |
| Feldmanns Tour endet in der Nähe ihrer Wohnung. Praktisch. „Lange | |
| Anfahrtswege lohnen sich für die Zusteller nicht“, sagt Feldmann. Der | |
| Fahrer der Agentur hatte den Stapel Zeitungen am frühen Morgen an ihrer | |
| Haustür abgeliefert. | |
| Früher, so erzählt die Austrägerin, legten Fahrer die Stapel manchmal | |
| einfach im Hauseingang ab, wo sich die Zusteller dann für ihre Touren | |
| bedienten. Aber diese Zeiten sind vorbei, seitdem man Altpapier in der | |
| Stadt für 8 Cent das Kilo an Sammelstellen verkaufen kann. Zeitungsstapel | |
| werden schnell geklaut von Leuten, die mit jedem Cent rechnen müssen. Die | |
| Fahrer liefern die Blätter jetzt in abschließbare Depots oder den | |
| Zustellern direkt ins Haus. | |
| Es ist jetzt fünf Uhr morgens an diesem Wintertag. „Es ist Zeit für einen | |
| starken Kaffee“, sagt Feldmann. Zu Hause wartet die Wohnstube und eine | |
| druckfrische Berliner Tageszeitung. Die kriegt sie umsonst. | |
| * Namen aller Beteiligten geändert | |
| 13 Jan 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Dribbusch | |
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