# taz.de -- Naturwissenschaftliches Lernen: Das schiefe Bild von Pisa | |
> Am Dienstag wird die neue Pisa-Studie veröffentlicht. Doch viele Schulen | |
> gehen längst neue Wege. Der Vergleichstest gerät dabei oft zur | |
> Nebensache. | |
Bild: Ist das eine Meldung? | |
BERLIN taz | Am Berliner Primo-Levi-Gymnasium müssten sie jetzt gespannt | |
sein. Liegt man nicht im Wettstreit mit Korea, Finnland, Australien, mit | |
der ganzen Welt? 2012 nahmen die Schüler einer 9. Klasse des Gymnasiums am | |
Pisa-Test teil. Sie rechneten etwa aus, wie viele Personen in einer halben | |
Stunde eine Drehtür passieren können. Heute werden die Ergebnisse | |
veröffentlicht; Schwerpunkt ist in diesem Jahr die Mathematik. | |
„Puhh, Pisa“. Die Leiterin des Fachbereichs Mathematik Angelika Reiß atmet | |
nachdenklich aus. „Wir werten das natürlich aus und schauen, wo die | |
Schwächen lagen“, sagt sie zögernd. „Natürlich sind wir dankbar für Pis… | |
Ohne Pisa und die ganzen Studien hätten wir Sinus nicht bekommen.“ | |
„Sinus“ – das steht für „Steigerung der Effizienz des | |
mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts“. Als Akronym hat es zwar | |
nie die Bekanntheit von Pisa erlangt, das Programm war aber für Reiß und | |
ihre Kollegen viel wichtiger als die weltweiten Schülerleistungsvergleiche | |
der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit: Als sich beim | |
Vorläufer von Pisa, der Mathestudie Timss, bereits Mitte der 90er Jahre | |
zeigte, dass deutsche Schüler im Vergleich zu japanischen nicht gerade | |
brillieren, legten Bund und Länder ein paar Millionen zusammen und | |
ermöglichten es Lehrern, sich fortzubilden und voneinander zu lernen. Ziel | |
des Programms Sinus war es, den Unterricht so zu gestalten, dass Schüler | |
häufiger selber denken, statt auswendig zu lernen. Begreifen statt büffeln. | |
Als Pisa die maue deutsche Schülerperformance 2001 bestätigte, war die | |
Berliner Lehrerin Angelika Reiß der einsetzenden Pisa-Depression schon ein | |
Stück weit entronnen. Als Koordinatorin von zwölf Berliner Sinus-Schulen | |
bereiste sie die gesamte Republik und hospitierte bei Kollegen aus anderen | |
Bundesländern. Sie alle verfolgten das gleiche Ziel: einen Unterricht, der | |
Kompetenzen fördert und Schüler aktiviert. Wie der heute aussieht? Teils | |
ziemlich experimentell. | |
## Welche Gesetze könnten gelten? | |
„Als wir den Wechselstrom durchnahmen, haben wir erst mal selber Versuche | |
gemacht“, sagt Oliver Böhm, der die 12. Klasse des Primo-Levi-Gymnasiums | |
besucht. Seine Leistungskurse sind Chemie und Physik. „Danach haben wir uns | |
überlegt, welche Gesetze gelten könnten. Und erst zum Schluss haben wir | |
unsere Erkenntnisse mit der gültigen Lehrmeinung verglichen.“ | |
Oder spielerisch. Anne Kruse ist Schülerin der 12. Klasse am | |
Primo-Levi-Gymnasium. Ende November hat ihre Schule sie auf eine Tagung des | |
von der Wirtschaft geförderten „Vereins | |
mathematisch-naturwissenschaftlicher Exzellenzcenter“ geschickt. Die 180 | |
von ihm geförderten Gymnasien sollen „exzellente“ naturwissenschaftliche | |
Bildung bieten. Jetzt steht Anne vor einer kleinen Kamera, sie läuft darauf | |
zu, geht langsam ein paar Schritte zurück. Ein Sensor misst den Abstand, | |
eine Uhr die Zeit. Auf einem Bildschirm werden ihre Bewegungen als Kurve | |
angezeigt. Der Weg mal die Zeit, die sie braucht – Anne hat ein | |
Geschwindigkeitsdiagramm erlaufen. | |
„Es geht darum, Mathematik erfahrbar zu machen“, sagt Reiß, die den | |
Fachbereich Mathematik leitet. Sie könne ihren Schülern die fertige Formel | |
an die Tafel schreiben und ihnen passende Aufgaben geben. „Das dauert eine | |
Stunde. Ich kann ihnen aber auch Aufgaben geben und sie auffordern, die | |
Formel selbst zu finden. Das dauert drei Stunden – ist aber nachhaltig.“ | |
## Sinus ist Geschichte | |
Das erfolgreiche Sinus-Programm legten Bund und Länder 2003 später noch | |
einmal für die zehnfache Anzahl an Schulen auf und schoben zwei weitere | |
Varianten für die Grundschulen nach. Die am Dienstag erscheinende | |
Pisa-Studie wird auch die Erträge aus dieser bundesweit größten | |
Lehrerfortbildung spiegeln. Deutschland, so wurde vorab bekannt, liegt | |
international im Mittelfeld. | |
Dabei ist Sinus schon Geschichte. Mit der Föderalismusreform endete 2006 | |
die pragmatische Zusammenarbeit von Bund und Ländern fürs Erste. Jedes Land | |
reformierte fortan für sich. Das bundesweite Sinus-Netzwerk wurde | |
grobmaschiger. „Das Tolle an Sinus war der Blick über den Zaun, der | |
bundesweite Austausch“, sagt Peter Baptist, Professor an der Uni Bayreuth | |
und einer der Väter von Sinus. „Wir bräuchten dringend ein neues Programm, | |
sonst geht dieser Effekt verloren.“ | |
Einem neuen Bundesprogramm steht jedoch das Grundgesetz entgegen, das Bund | |
und Ländern getrennte Aufgaben zuweist. Und Bildung ist allein Ländersache. | |
„Der Bund darf kein neues Sinus-Programm finanzieren und die Länder | |
schaffen es finanziell nicht“, sagt Claudia Fischer vom Institut für | |
Naturwissenschaften in Kiel, wo die Sinus-Stränge zusammenliefen. Doch die | |
Ideen aus Sinus – Begreifen statt Büffeln – haben ein Eigenleben | |
entwickelt. Private Geldgeber sprangen ein. | |
## Handwerkszeug muss sein | |
Auch die Telekom-Stiftung spendet Geld für neue Konzepte zur | |
Lehrerausbildung in Mathematik und Naturwissenschaften. „Wer Schüler | |
individuell fördern will, muss verstehen, wie sie denken“, sagt Christoph | |
Selter. Der Dortmunder Professor sitzt im Lichthof der Telekom-Stiftung, | |
blaues Licht auf seiner gemusterten Krawatte. Die Abschlusstagung des | |
Mint-Lehrerbildungswettbewerbes ist gerade vorbei. | |
Selter hat ein Konzept und Materialen entwickelt, die Grundschullehrern | |
helfen sollen, Schüler besser zu verstehen. „Es geht nicht darum, zehn | |
beliebige Aufgaben zu üben, sondern zehn geeignete Aufgaben“, erklärt | |
Selter. Klar müsse man das Einmaleins auswendig lernen lassen und abfragen. | |
Aber erst müsse man sicher sein, dass die Schüler auch verstanden hätten, | |
was etwa fünf mal sechs bedeute. Sie könnten sie zum Beispiel auffordern, | |
sich eine Geschichte zu fünf mal sechs auszudenken. „Es kommt darauf an, | |
Schüler herauszufordern, ihnen Futter zu geben“, sagt Selter. „Aber wir | |
setzen Schüler noch viel zu oft auf Diät.“ | |
Angelika Reiß beginnt ihre Mathestunden gern mit kleinen | |
Kopfrechenaufgaben. „Denn das gehört zum Handwerkszeug.“ Auch am heutigen | |
Dienstag läuft alles nach Plan. „Pisa steht für mich als Lehrerin nicht im | |
Vordergrund. Das Wichtigste an der Schule sind unsere Schüler.“ | |
2 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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