# taz.de -- Mathedidaktiker über Pisa: „Schluss mit dem Geteste“ | |
> In einer Woche werden die Ergebnisse der fünften Pisa-Studie vorgestellt. | |
> Der Mathematikdidaktiker Wolfram Meyerhöfer hält die Tests für | |
> willkürlich und schädlich. | |
Bild: Kritische Fragen zu der Pisa-Testeritis blieben weitgehend aus. | |
taz: Herr Meyerhöfer, Sie haben die Pisa-Studien von Anfang an kritisiert. | |
Wogegen richtet sich Ihre Kritik? | |
Wolfram Meyerhöfer: Nun, ich habe ursprünglich mal versucht, mit Hilfe von | |
Pisa und ähnlichen Studien Wege zur Verbesserung von Schule zu finden. | |
Dafür geben diese Studien aber nichts her. Es war, als würden Sie ein Bild | |
aufhängen wollen: Sie schlagen einen Nagel in die Wand und Schlag für | |
Schlag bröckelt Ihnen die Wand entgegen. Bei näherer Betrachtung erweist | |
sich jedes theoretische und methodische Element von Pisa als brüchig. | |
Brüchig? Inwiefern? | |
Die Tests werden nach oberflächlichen Kriterien zusammengestückelt, es gibt | |
dabei nicht mal den Versuch, darzustellen, was überhaupt gemessen wird. | |
Moment. Pisa untersucht, inwieweit Schüler in der Lage sind, ihr Wissen | |
anzuwenden und Probleme zu lösen, und zwar auf fünf verschiedenen | |
Kompetenzstufen. | |
Die Pisaner glauben, ihr banales Richtig-falsch-Schema würde schon | |
irgendwie ein sinnvolles Resultat ergeben. Nur haben sie keinerlei | |
Vorstellung davon, wie dieses Sinnvolle zustande kommen soll. | |
Könnten Sie das konkret für den mathematischen Bereich erläutern? | |
Ganz grundsätzlich gilt: Bei jeder nicht völlig trivialen Aufgabe gibt es | |
stets viele Möglichkeiten, zur gewünschten Lösung, die aber nicht in jedem | |
Fall die richtige sein muss, zu gelangen. | |
Also 17 plus 28 ist 45. Weitere Lösungen fallen mir nicht ein. | |
Der Laie denkt, in der Mathematik käme es nur auf das Resultat an. Ein Test | |
sollte aber herausfinden, was der Schüler konkret kann. Schon bei der | |
Aufgabe 17 plus 28 gibt es ja viele Wege, die ganz unterschiedliche | |
Fähigkeiten anzeigen. Zählt der Schüler? Rechnet er die Zehner und die | |
Einer einzeln zusammen? Rechnet er schrittweise, beispielsweise also 28 | |
plus 10 plus 7. Es kann sein, dass ein Schüler hier ein falsches Resultat | |
produziert, aber mehr verstanden hat als einer, der ein richtiges Resultat | |
produziert. Das Konstrukt mathematische Leistungsfähigkeit, also das, was | |
Pisa hier zu messen vorgibt, ist damit faktisch der Zufälligkeit | |
preisgegeben. | |
Aber kann man die Aufgaben nicht einfach verbessern? | |
Ja, Sie könnten lauter wirklich scharf messende Aufgaben nutzen. Wenn Sie | |
aber schon bei 17 plus 28 nicht mehr wissen, welche Leistung Sie gerade | |
konkret messen, dann können Sie sich vorstellen, wie primitiv eine Aufgabe | |
sein muss, damit sie nur einen einzigen, klar benennbaren Lösungsweg hat. | |
Dann aber eignet sich der Test ganz sicher nicht mehr als | |
Schulleistungstest. Denn Schule soll ja gerade geistige Vielfalt | |
herausbilden. Das widerspricht präzisem Messen aber diametral. | |
Pisa wurde von der Organisation für ökonomische Zusammenarbeit, OECD, | |
initiiert. Diese hat kaum Interesse daran, allerorten Testeritis | |
auszulösen, ohne dass Qualitätsverbesserungen herausspringen.? | |
Die OECD will mit Pisa offenbar erreichen, dass die Institution Schule | |
zukünftig in noch stärkerem Maße wirtschaftlichen Interessen zuarbeitet, | |
als dies bisher der Fall ist. Sie soll fortan einfach nur noch brauchbares, | |
gut gebrauchbares Menschenmaterial produzieren. | |
Wie soll das mittels eines Tests, an dem in Deutschland 2012 gerade mal 250 | |
Schulen teilgenommen haben, gelingen? | |
Nirgendwo wurde Pisa so aggressiv vermarktet wie bei uns. Es geht darum, | |
dieses bis dahin immer sehr geistig orientierte Land für eine gewaltige | |
Testindustrie zu öffnen und geistige Beschränkung und Standardisierung als | |
Fortschritt zu verkaufen. | |
Ist das gelungen? | |
Ja, man muss wirklich anerkennen, welch großartige Marketingleistung es | |
war, 40 Regierungen dazu zu bringen, eine dreistellige Millionensumme pro | |
Durchgang lockerzumachen für einen Test, der tatsächlich keinerlei | |
handlungsrelevantes Wissen erzeugt. Es gibt keine einzige politische | |
Entscheidung, die aus Pisa wirklich ableitbar wäre – auch wenn es natürlich | |
viele solche Entscheidungen gibt, die man gern mit Pisa legitimiert. | |
Das hört sich so an, als ob Sie den „Pisa-Schock“ für eine Art | |
organisierten kollektiven Irrtum hielten? | |
Sie als Journalisten haben hier jedenfalls kollektiv versagt. Sie haben nie | |
die Frage gestellt: Wie viele richtige Kreuze mehr als ein deutscher | |
Schüler hat denn so ein finnischer Schüler gemacht? Nie gefragt: Ist das | |
denn überhaupt ein relevanter Unterschied? Kann man in 90 Minuten wirklich | |
eine sinnvolle Aussage über ein Schulsystem generieren? Bei jeder | |
Kreissparkassenbilanz hätte es kritischere Nachfragen gegeben. | |
Der Pisa-Schock hatte aber doch heilsame Wirkungen. Viele Länder haben | |
außerdem ihr Schulsystem umgestellt. | |
Wenn es darum ging, das Thema Bildung in den gesellschaftlichen Fokus zu | |
stellen, dann hätte man nach der ersten Pisa-Skandal-Runde einfach Schluss | |
machen können mit dem Geteste. Schule hatte bereits vorher die Tendenz, die | |
Bildungsgegenstände vom eigentlich Bildsamen zu entkleiden und das | |
Übriggebliebene dann als „Stoff“ zu vermitteln. Statt Schule nun aber | |
stärker dem Bildsamen zuzuwenden, statt sie lebendiger zu machen, offener | |
für Freude an der Sache und am Verstehen, für Neugier und für wirklich | |
sinnstiftendes Lernen, hat man sich für den entgegengesetzten Weg | |
entschieden. Pisa forderte zu einer weiteren Verengung von Schule auf und | |
dieser Aufforderung ist man allerorten brav gefolgt. | |
Macht Pisa also dümmer? | |
Es ist sicherlich nicht inkorrekt, diese Frage mit Ja zu beantworten. | |
29 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Jens Wernicke | |
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