# taz.de -- Schweden stürzt im Pisa-Vergleich ab: Fahrerlaubnis als Lockmittel | |
> In Schweden werden die Unterschiede zwischen guten und schlechten | |
> Schülern größer. Mitverantwortlich dafür könnte die freie Schulwahl sein. | |
Bild: Hier lernt Schwedens Elite: Schülerinnen des Lundsbergs-Internats. | |
STOCKHOLM taz | Zu Beginn des Schuljahres musste Helen Forsberg erst mal | |
einige Dinge klarstellen. Immer wieder hatte die Direktorin des privaten | |
Mikael-Elias-Gymnasiums in Stockholm Eltern am Telefon, die fragten, ob es | |
möglich sei, dass ihre Kinder bei Anmeldung eine kostenlose Monatskarte | |
bekämen? Nein, antwortete Helen Forsberg. „Wir wollen mit unserem | |
pädagogischen Konzept überzeugen.“ | |
Andere Schulen verlassen sich nicht allein darauf. Sie bieten potenziellen | |
Schülern allerlei Extras bis hin zu kostenlosen Fahrstunden. In den 90er | |
Jahren übergab Schwedens damals sozialdemokratische Regierung die | |
staatlichen Schulen an Kommunen und freie Träger. Eltern können ihre Kinder | |
auf jeder beliebigen Schule, ob privat oder kommunal, anmelden, ohne dafür | |
zu bezahlen. Der Staat erstattet den Schulen die Kosten. Die buhlen seither | |
um Kinder und Jugendliche, deren Zahl auch in Schweden schwindet. | |
Dass dieser Wettbewerb nicht nur mit guten Unterrichtskonzepten geführt | |
wird, zeigte in der vergangenen Woche die neue Pisa-Studie. Schweden ist | |
abgestürzt. In keinem anderen Industrieland gingen die Leistungen in Lesen, | |
Mathematik und Naturwissenschaften so stark zurück. | |
„Wir wussten, dass die Ergebnisse nicht gut sein würden, aber diese | |
Verschlechterung hatten wir nicht erwartet“, räumt die Leiterin der | |
nationalen Schulbehörde Skolverket, Helen Ängmo, ein. Man werde jetzt | |
genauer hinschauen, wie die Lehrer unterrichten. Außerdem sind die egalitär | |
eingestellten Schweden verdutzt über die wachsenden Unterschiede zwischen | |
Schulen und Schülern. Pisa zeigte, dass die Leistungseinbrüche bei | |
schwächeren Schülern am größten waren. | |
Eine Ursache für die wachsende Kluft könnte die freie Schulwahl sein, meint | |
Behördenleiterin Ängmo. „Die motivierten Schüler zieht es zu bestimmten | |
Schulen, während sich an anderen Schulen eine tendenziell | |
leistungsschwächere Schülerschaft sammelt. Dort lernen die Kinder weniger | |
voneinander und die Lehrer erwarten auch weniger von ihnen.“ | |
## Beginn einer Abwärtsspirale | |
„Wie sagt man in Deutschland? Restschule?“, erkundigt sich eine Lehrerin, | |
die an einem beruflichen Gymnasium am Rande Stockholms unterrichtet. Die | |
Schülerschaft ihrer Schule hat sich in den letzten Jahren halbiert – und | |
dementsprechend auch das Budget. Eine Abwärtsspirale begann. „Gute Schüler | |
melden sich auf den Schulen im Stadtzentrum an. Die haben den besten Ruf.“ | |
Übrig blieben diejenigen, die Lern- und Konzentrationsprobleme hätten oder | |
denen Schule nicht so wichtig sei. | |
Aber auch sich elitär gebende Schulen wie das Mikael-Elias-Gymnasium haben | |
in den letzten Jahren die Aufnahmekriterien gesenkt. Wurden früher nur | |
leistungsstarke Schüler zugelassen, schaue man inzwischen nicht mehr | |
ausschließlich auf die Noten, sagt Forsberg. Wichtig sei, ob Schüler | |
motiviert seien. | |
Die Schweden sind gegen freien Schulen misstrauischer geworden. Die | |
großzügige Kostenerstattung in Form eines Gutscheinsystems hatte zu Beginn | |
des Jahrtausends einen Gründungsboom ausgelöst und lockte immer mehr | |
gewinnorientierte Unternehmen auf den Schulmarkt. Zwei von drei freien | |
Trägern sind heute Aktiengesellschaften, hinter denen oft | |
Risikokapitalgesellschaften, sogenannte Hedgefonds, stehen. | |
## Schulträger musste Konkurs anmelden | |
Ein solcher, die dänische Firma Axcel, kaufte im Jahre 2008 den bis dato | |
größten freien Schulträger John-Bauer-Gymnasiet auf, schöpfte rund 30 | |
Millionen Euro Gewinn ab und meldete vier Jahre später den Konkurs der | |
Schulen an. Der Staat musste die ausstehenden Lehrergehälter zahlen, 10.000 | |
Schüler machten sich mitten im Schuljahr auf die Suche nach einer neue | |
Schule. | |
Auch das Mikael-Elias-Gymnasium gehört zu einem Bildungskonzern mit einem | |
Fonds im Hintergrund. Der Academedia-Konzern garantiert allen Schülern | |
einen Abschluss auf einer der landesweit 300 Schulen. | |
Das bekommen auch die Lehrer zu spüren. „Wenn Schüler unzufrieden sind, | |
gehen sie sofort zum Direktor“, erzählt Isabella Lamberg, die in Stuttgart | |
unterrichtete, bevor sie sich am Mikael-Elias-Gymnasium als Deutschlehrerin | |
bewarb. Dann werde man zur Konrektorin zum Gespräch einbestellt. „Wenn es | |
nicht klappt, dann ist man irgendwann das Fach los.“ Vor jeder | |
Klassenarbeit teilt Lamberg den Schülern daher genau mit, was sie von ihnen | |
erwartet. | |
Dass man an privaten Schulen weniger lernt als an staatlichen, lässt sich | |
allerdings nicht nachweisen. „Wir haben keinen Beleg dafür, dass die | |
Privatisierung von Schulen zur Verschlechterung der Testergebnisse geführt | |
hat“, meint Anders Böhlmark vom Institut für Sozialforschung SOFI in | |
Stockholm. Dort, wo der Anteil freier Schulen höher war, hätten sich die | |
Leistungen sogar weniger stark verschlechtert. | |
## Gewaltige Reformen angekündigt | |
Jedoch auch nicht verbessert. Weshalb Schwedens Bildungsminister Jan | |
Björklund von der moderaten Volkspartei nach der Veröffentlichung der | |
Pisa-Studie umgehend gewaltige Reformen ankündigte: Man werde die Schulen | |
wieder verstaatlichen, den Schülern früher Noten geben und die Lehrer | |
besser bezahlen. | |
Mehr Kontrolle von oben also und ein paar Zuckerl für die unzufriedene | |
Lehrerschaft. Schulleiterin Helen Forsberg bevorzugt einen anderen Weg: | |
„Wir sollten nicht so sehr auf die Rankings schauen, sondern darüber | |
diskutieren, was wir im Unterricht verbessern können. Ich möchte, dass | |
Schüler beim Lernen ein Funkeln in den Augen haben.“ | |
13 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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