| # taz.de -- Überleben auf den Philippinen: Die Mühe nach dem Sturm | |
| > Wie lebt man weiter nach einem Taifun? Mit viel Einfallsreichtum bringt | |
| > die Philippinin Joy Colminar sich, ihren Mann und vier Kinder durch. | |
| Bild: Veranstaltungszentrum Astrodome in Tacloban: Während des Taifuns wurde e… | |
| Was ist Glück? „Glück ist, wenn man überlebt. Wenn ich meine Kinder um mich | |
| habe, die ich alle hätte verlieren können, dann bin ich glücklich.“ | |
| Joy Colminar schaut ihre beiden Jüngsten an, drei und zwei Jahre sind sie | |
| erst. Sie spielen mit einem kaputten Ball, den sie irgendwo gefunden haben. | |
| Ihre beiden älteren Geschwister, zwölf und sechs Jahre alt, streifen durch | |
| die Gegend. Eigentlich müssten sie in der Schule sein, es ist ein | |
| Wochentag. Doch Unterricht hatten die Kinder von Tacloban auf der | |
| philippinischen Insel Leyte zum letzten Mal am 7. November. Dann kam der | |
| Taifun, der alles veränderte. | |
| Haiyan, der auf den Philippinen Yolanda heißt, ist brutal und unbarmherzig. | |
| Ein halbes Dutzend Inseln zertrümmert er, am schlimmsten erwischt es Leyte | |
| und die Nachbarinsel Samar in den östlichen Visayas. Was den Taifun aber zu | |
| einem der tödlichsten in der Geschichte der Philippinen macht, sind die | |
| Sturmwellen. | |
| Bis zu sechs Meter hoch türmen sich die Wasserwalzen auf, die landeinwärts | |
| tosen und dicht bevölkerte Küstenstreifen in Todeszonen verwandeln. Mehr | |
| als 7.500 Menschen sind offiziellen Zahlen zufolge tot oder gelten als | |
| vermisst. Vermutlich sind es mehr, Bevölkerungszahlen sind vage auf den | |
| Philippinen. | |
| ## Ein kleines Wunder | |
| Es ist ein kleines Wunder, dass Joy Colminar und ihre Familie überlebt | |
| haben. Ihre Hütte stand im Ortsteil San José, nahe dem Flughafen von | |
| Tacloban. Auf der Landzunge siedelten Menschen, die in der Stadt keinen | |
| bezahlbaren Wohnraum fanden. Es sind Menschen mit wenig Geld und vielen | |
| Kindern. Haiyan hat kein Erbarmen, rasende Windböen reißen die Dächer weg, | |
| entwurzelte Bäume und Möbel werden zu tödlichen Geschossen. | |
| „Der Wind war so laut wie ein landendes Flugzeug, wir haben uns in eine | |
| Ecke gekauert und gebetet, dass es bald vorbei ist. Aber dann kam das | |
| Wasser“, erinnert sich die zierliche Philippinerin. | |
| Die 31-Jährige zupft an ihrem abgetragenen T-Shirt, ganz leise wird die | |
| Stimme: „Es war plötzlich überall, unser ganzes Haus war voller Wasser. Wir | |
| schrien und strampelten, die Kinder klammerten sich an mich und meinen | |
| Mann. Wir versuchten nur, oben zu bleiben, uns irgendwo festzuhalten. Dann | |
| konnten wir uns in ein anderes Haus retten, das auf einem Hügel lag. Ich | |
| habe keine Ahnung, wie wir das geschafft haben.“ | |
| Der Überlebenskampf liegt über einen Monat zurück, doch wenn Joy Colminar | |
| davon erzählt, ist alles wieder da. Die Schreie, die Panik, die Angst. Ihre | |
| dunklen Augen blicken nach innen, die Hände suchen fahrig nach Halt. Tapfer | |
| lächelt sie dann, „wir leben ja“. Aber es ist ein Leben ohne Normalität. | |
| ## Von der Todesfalle zur letzten Zuflucht | |
| Die Familie ist am Astrodome gestrandet, einem der größten | |
| Evakuierungszentren Taclobans. Das runde Basketballstadion hatte als | |
| sicherster Ort der Hauptstadt von Leyte gegolten, Hunderte Menschen hatten | |
| dort vor der Wut des Taifuns Zuflucht gesucht. Doch der Astrodome wurde zur | |
| Falle. Keine 100 Meter weg liegt er vom Meer, die Sturmwellen tosten durch | |
| die Korridore. Mindestens 300 Menschen ertranken, so heißt es. | |
| Jetzt will niemand in der Unglückshalle leben. Stattdessen ist rund um das | |
| einstige Sportzentrum ein Gewirr aus Behausungen entstanden, in denen mehr | |
| als 1.600 Obdachlose campieren. Ihre Patchwork-Hütten bestehen aus dem, was | |
| sie in den Schuttbergen nach dem Sturm finden konnten: Metall, Steine, | |
| Holz, Plastikplanen, Decken. | |
| Auch Joy Colminar und ihr Mann schleppten herbei, was sie noch verwenden | |
| konnten. Der Lebensraum der sechsköpfigen Familie misst nicht mehr als zehn | |
| Quadratmeter. Es ist auch tagsüber stockfinster in dem winzigen Hüttchen, | |
| stickig und trostlos wirkt der kahle Raum. Eine dreckige Wolldecke hängt am | |
| Eingang und schützt nachts vor neugierigen Blicken. Aber nicht vor dem | |
| Gestank der mobilen Toiletten, die in der Nähe stehen und nur alle paar | |
| Tage gereinigt werden. Und nicht vor den Moskitos, die sich in den | |
| schlammigen Pfützen des Evakuierungscamps vermehren und die Menschen vor | |
| allem nachts peinigen. | |
| Schlaflosen Nächten folgen lethargische Tage. Es gibt nicht viel zu tun im | |
| Astrodome. Die Kinder haben keine Schule, die Männer keine Arbeit. Ihre | |
| Fischerboote sind zerschlagen, Firmen und Geschäfte sind mit wenigen | |
| Ausnahmen noch immer geschlossen. Man steht nach Medikamenten an, die vor | |
| allem ausländische Hilfsteams verteilen. Oder nach gespendeten Kleidern, | |
| die von Manila aus nun tonnenweise in das Taifungebiet kommen. | |
| ## "What's your name?" | |
| Auf einem angebrochenen Holzstuhl sitzt ein Mädchen, ihre Mutter untersucht | |
| die langen schwarzen Haare auf Läuse und knackt sie geschickt mit den | |
| Fingernägeln. „What’s your name?“, fragt die Kleine neugierig jeden | |
| Ausländer, der seinen Weg durch den Schlamm zwischen den Behausungen sucht. | |
| Diesen Satz hat sie schnell gelernt von den vielen Helfern aus Amerika, | |
| Australien und Europa, die in Tacloban Nothilfe leisten. | |
| Hunderte sind gekommen. Und sie brauchen ein Dach über dem Kopf, etwas zu | |
| essen. Ein Glück für die wenigen betriebsfähigen Hotels und Restaurants in | |
| Tacloban, die seit dem Taifun so gut verdienen wie nie zuvor. „Wir sind | |
| komplett ausgebucht und haben eine Warteliste“, sagt Imrey A. Rubin vom | |
| Leyte Park Hotel. Dass die Zimmer etwa 75 US-Dollar pro Nacht und damit | |
| fast 50 Prozent mehr kosten als vor dem Sturm, erklärt der Manager mit den | |
| hohen Betriebskosten des Generators. | |
| Auch wer beim Italiener „Giuseppe“ essen will, muss früh kommen und tief in | |
| die Tasche greifen. Umgerechnet 9 Euro kostet die Pizza, das können sonst | |
| nur Edel-Lokale in der philippinischen Hauptstadt Manila fordern. | |
| Ansonsten geht es in Tacloban mühsam voran. Zwar sind die Straßen wieder | |
| befahrbar, doch die Dreckhalden am Straßenrand miefen in der Tropenhitze | |
| vor sich hin. Süßlicher Verwesungsgeruch zeigt an, wo noch immer Tote unter | |
| Trümmern liegen. Es gibt keine Müllabfuhr, was nicht mehr nutzbar ist, wird | |
| verbrannt. Rauch zieht durch die Straßen, als hätte sich die Artillerie | |
| eine Schlacht geliefert. Fließendes Wasser gibt es nicht. Strom? Zwanzig | |
| Prozent der Stadt sind wieder am Netz, zumindest die Hauptstraßen sind | |
| nachts wieder erleuchtet. | |
| ## Eine gewaltige Aufgabe | |
| „Es stimmt, wir stehen mit unseren Wiederaufbaumaßnahmen noch am Anfang“, | |
| sagt Tecson Jon Lim, der Chef der Stadtverwaltung. Auf seiner roten Weste | |
| steht „I love Tacloban“, er kommt gerade von einer Inspektionsrunde zurück | |
| ins Rathaus. Rastlos schiebt er auf seinem Schreibtisch Papiere hin und | |
| her. Er springt von einem Thema zum anderen, tippt auf dem Handy herum, | |
| checkt etwas am Computer. Er würde gerne mehr tun, doch die Aufgabe ist | |
| gewaltig. | |
| Und die Unterstützung von der nationalen Regierung aus Manila, so sagt er, | |
| sei minimal. Polizei und Militär hätten die geschickt, auch Hilfsgüter. | |
| „Aber wir haben noch keinen einzigen Peso aus der Hauptstadt bekommen“, | |
| behauptet Lim. Ob es stimmt, wer weiß das. | |
| Die Beziehung zwischen Tacloban und Manila ist vergiftet. Auf Leyte hat die | |
| Romualdez-Familie, der Clan der früheren Diktatorengattin Imelda Marcos, | |
| das Sagen. Ihr Mann, Ferdinand Marcos, hat einst angeblich den | |
| Oppositionspolitiker Benigno „Ninoy“ Aquino erschießen lassen. Der heutige | |
| Präsident der Philippinen heißt Benigno „Noynoy“ Aquino, er ist der Sohn | |
| des Ermordeten. Die Feindschaft der Familien belastet die Hilfsmaßnahmen, | |
| daran gibt es für Betroffene und Beobachter keinen Zweifel. | |
| Joy Colminar interessieren solche Befindlichkeiten nicht. Die vierfache | |
| Mutter braucht ihre Kraft, um sich von Tag zu Tag zu hangeln. „Mein Mann | |
| hat kurz nach dem Sturm eine Stange Zigaretten gefunden“, erzählt sie. Der | |
| Fund könnte durchaus aus den Plünderungen in den ersten beiden Tagen nach | |
| dem Sturm stammen. Aber wen interessiert das, wenn es darum geht, eine | |
| Familie zu ernähren? | |
| ## Tante-Emma-Laden auf Philippinisch | |
| „Wir haben die Zigaretten verkauft, für 1,5 Peso das Stück. Es war ein | |
| solches Glück für uns“, erinnert sich die Philippinerin. Von dem Geld kauft | |
| sie Kleinigkeiten, die sie nun mit minimalem Gewinn wieder losschlägt. | |
| Vor ihrem Hüttchen am Astrodome steht Joy nun jeden Tag an einem wackligen | |
| Tresen und verkauft Bonbons, Eier, Zwiebeln, Shampoo und Seife in | |
| Tagesportionen. Geduldig scheucht sie stundenlang die Fliegen weg, die sie | |
| und ihre kleinen Schätze umschwirren. Aus dem Nichts hat sie einen | |
| Sari-Sari-Store geschaffen, die philippinische Version eines | |
| Tante-Emma-Ladens. | |
| An guten Tagen verdient sie etwa 400 Pesos, höchstens die Hälfte verwendet | |
| sie für die Familie. Das sind umgerechnet fünf US-Dollar, für sechs | |
| Personen. Von dem Rest kauft sie neue Vorräte für ihren Sari-Sari-Store. | |
| Es ist ein mühsames Leben. Die Philippinerin ahnt, dass es noch lange so | |
| weitergehen wird. „Wir haben bei dem Taifun alle unsere Dokumente verloren. | |
| Ohne die können wir die Kinder aber bei keiner Schule anmelden. Und wir | |
| können uns nicht bewerben, um ein neues Haus von der Regierung zu bekommen. | |
| Offiziell gibt es uns nicht mehr“, sagt sie und zuckt die Schultern. | |
| ## Jemand soll kommen | |
| Sie hat keine Energie, sich um diesen Papierkram zu kümmern. Sie hat auch | |
| nie gelernt, mit Behörden und Formularen umzugehen. Joy Colminars Leben war | |
| immer nur eine Abfolge von Notwendigkeiten. Deswegen wartet sie und hofft, | |
| dass jemand zu ihr kommt und sagt, wie es weitergeht. | |
| In der Nähe des Astrodome hängt an einem geschlossenen Fast-Food-Restaurant | |
| ein Plakat, auf dem steht: „Wir haben keine Arbeit mehr, wir haben kein | |
| Zuhause mehr, aber wir haben Hoffnung.“ Ein Slogan, der von Joy Colminar | |
| stammen könnte. Sie macht niemandem Vorwürfe für ihre Misere. Es werde | |
| schon irgendwie weitergehen. Ihre Familie hat überlebt. Und das bedeutet | |
| doch schon Glück, sagt sie. | |
| 24 Dec 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Hilja Müller | |
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