| # taz.de -- Philippinen, 15 Monate nach dem Taifun: Vor dem nächsten Desaster | |
| > Der Sturm „Haiyan“ hinterließ im November 2013 eine Spur der Verwüstung. | |
| > Wer überlebte, fing bei Null an. Ein Besuch auf der der Insel Samar. | |
| Bild: 450 Tage später: Guiuan ragt in den Pazifik und streckte sich genau der … | |
| OST-SAMAR taz | Wenn wieder ein Taifun kommt, wird Tootsie Esposito erneut | |
| nach den „Sentimentalen“ suchen, wie er sie nennt, weil sie so an ihren | |
| Habseligkeiten hängen. Notfalls wird er sie mit Gewalt aus ihren Hütten in | |
| Guiuan holen müssen. Gemeinsam werden sie dann den Hügel hinaufgehen, in | |
| die neue Schule mit den dreifach vernieteten Blechdächern, den vergitterten | |
| Fenstern. Dort werden sie warten, bis der Sturm vorbei ist. 20, manchmal 30 | |
| Stunden kann das dauern. Und dann wird Esposito nachsehen, ob sein Dorf | |
| noch da ist. Letztes Mal war es verschwunden. | |
| Guiuan ragt wie ein Grashalm in den Pazifischen Ozean, eine Landzunge, die | |
| sich wie dank einer bösen Laune der Natur genau der Route von „Haiyan“ | |
| entgegenstreckte, dem wohl stärksten Wirbelsturm, der je im Pazifik | |
| registriert wurde. Heute, 450 Tage später, sieht es immer noch aus wie am | |
| Ende eines Films von Roland Emmerich. Die Wolken hängen tief, die Luft ist | |
| feucht. Zwischen den Resten von Hütten klaffen Brachen, die das | |
| hereingedrückte Meerwasser hinterlassen hat. Spuren der Zerstörung liegen | |
| über allem, als halle der Sturm stumm nach. Palmengerippe. Sie tragen kaum | |
| mehr Nüsse, die Bauern können kein Kokosöl mehr verkaufen. Etwas anderes | |
| baut hier niemand an. | |
| Mit seinem offenen türkisfarbenen Hemd, der zu großen Jeans und den | |
| Turnschuhen sieht Tootsie Esposito, 55, aus wie ein freundlicher Musikant. | |
| Tatsächlich war er Ingenieur, heute ist er in Frührente. | |
| Es ist Nachmittag, Esposito sitzt mit seiner Mutter und seiner Enkelin vor | |
| dem Fernseher. Besuch ist er gewohnt. Helfer kamen, Reporter und Offizielle | |
| sahen sich um. Esposito ist keiner der Ärmsten. Ein Teil seines Hauses ist | |
| aus Steinen gemauert. Der Rest aus verrostetem Wellblech, morschen Brettern | |
| und löchrigen Planen jedoch sieht aus, als brauche es keinen Supertaifun, | |
| sondern nur eine ordentliche Böe, um es umzuwehen. Wenn er in seinem | |
| verschlammten Garten steht und auf das Wasser schaut, dann zieht sich dort | |
| eine Schneise durch die Mangroven, als habe der Taifun zuerst das Meer | |
| gescheitelt und sei dann mitten durch sein Haus gezogen. | |
| ## Das Alphabet hat nicht mehr ausgereicht | |
| „Wirbelstürme gab es hier schon immer“, sagt er. Jedes Jahr bekommt der | |
| erste Taifun der pazifischen Saison einen Namen mit A, der nächste einen | |
| mit B und so weiter. 2013 gab es zum ersten Mal zwei mit A. Das Alphabet | |
| hat nicht mehr ausgereicht. Früher haben die Fischer in Guiuan ihre | |
| Habseligkeiten in Boote gesteckt, in die Mangroven gebracht und versenkt. | |
| Die Bauern haben Löcher in die Erde gegraben, sind hineingeklettert, haben | |
| Bretter darüber gezogen und abgewartet. Aber das waren die alten Stürme. | |
| Klasse 3, vielleicht 170 Stundenkilometer schnell. | |
| „Haiyan“ brachte es auf 315 Stundenkilometer. | |
| „Am Ende konnten wir unsere Mitarbeiter nicht mal anrufen und fragen, ob | |
| sie noch leben“, sagt Alexander Pama, der oberste Katastrophenschützer der | |
| Philippinen. 8.000 Menschen starben. | |
| In der Nähe von Guiuan gibt es ein Massengrab, eine Wiese mit Tausenden | |
| weißen Holzkreuzen. Jeder, der nach „Haiyan“ einen Angehörigen vermisste, | |
| konnte sich ein Kreuz suchen und mit Filzstift den Namen des Vermissten | |
| darauf schreiben. An der Seite stand eine Art Gedenkwand mit ihren Namen. | |
| Doch die hat im Dezember der Taifun „Hagyupit“ weggerissen. | |
| ## "Niemand gibt uns anderes Land" | |
| An der Küste sind die Stürme am tödlichsten. „Niemand gibt uns anderes | |
| Land. Wir haben kein Geld, wir müssen hier wohnen“, sagt Esposito. 100 | |
| Millionen Philippiner gibt es, die Inseln sind dicht besiedelt. Etwas | |
| Fischerei und Palmenanbau, wer sonst nichts hat, kommt hier am ehesten über | |
| die Runden. Würde die Regierung versuchen, die Millionen Bewohner der | |
| sturmgeplagten Ostküste umzusiedeln, sofort würden andere nachrücken. | |
| Im Januar kam der Papst in die Provinzhauptstadt Tacloban. Bis heute hängen | |
| überall die Plakate: Franziskus, hineinmontiert in eine Landschaft der | |
| Verwüstung, als könne er die Hütten durch sein Gebet wieder aufrichten. | |
| Esposito hat ihn gesehen. „Gott stellt uns keine Prüfung, die wir nicht | |
| bestehen können“, sagt er. Sechs Millionen Philippiner waren beim Papst, | |
| Weltrekord. Die Katastrophe macht viele nur noch fester in ihrem Glauben. | |
| „Hier war Apocalypse now“, sagt Sean Gonzales, der Bürgermeister von | |
| Guiuan. Nach dem Sturm hielt er eine Rede im Dorf. „Wir haben keine Häuser | |
| und keine Schulen, aber die Gnade Gottes.“ Und enttäuscht wurden die | |
| Menschen in Guiuan nicht, sagt er heute: „Die Hilfe, die wir bekommen | |
| haben, war überwältigend.“ | |
| ## Das mit den Zelten hat nicht funktioniert | |
| Benjamin J. Compaores leitet die Giporlos National Trade School in Guiuan. | |
| Heute ist eine Delegation gekommen. Er hat sein bestes Hemd angezogen, | |
| jedenfalls sieht es so aus. Er führt den Tross der Geber durch die | |
| Klassenräume, in denen Mädchen in von Hilfsorganisationen gespendeten | |
| T-Shirts Stockkampf trainieren oder Stoffe auf Schnittbögen ausschneiden. | |
| Fortwährend bedankt er sich. „Haiyan“ hat kaum etwas von seiner Schule | |
| übrig gelassen. „Irgendwann haben wir von der Regierung ein paar Zelte | |
| bekommen, aber das hat nicht gut funktioniert“, sagt er. | |
| Nur einer von je fünfzig Evakuierungsorten konnte der Kraft „Haiyans“ | |
| trotzen. Compaores’ Schule hat deshalb jetzt neue Klassenräume. An frisch | |
| gestrichenen Wänden prangt das Logo der EU, darunter sind die Kinderrechte | |
| aufgemalt. Recht Nummer 1: „Jedes Kind hat das Recht, geboren zu werden.“ | |
| Abtreibung ist auf den Philippinen verboten. Ansonsten sind die neuen | |
| Klassen eine gute Sache: Sie haben starke Trägerbalken, die Dächer sind | |
| flach, reichen weit nach unten und sind mit Beton versiegelt. Der Wind kann | |
| nicht darunter greifen. Alle paar Zentimeter ist das besonders dicke Blech | |
| festgenietet, jeder Raum hat zwei integrierte Toiletten, niemand soll ihn | |
| verlassen müssen. 25.000 Dollar kostet ein solches Klassenzimmer, 50 | |
| Menschen können darin einen Sturm überstehen. | |
| Vom „New Normal“, der „Neuen Normalität“, sprechen die Hilfsorganisati… | |
| die Katastrophenschützer, die Regierung, die Klimaforscher. Der Klimawandel | |
| gilt hier nicht mehr als noch abwendbare Gefahr, er ist Realität. Seit | |
| „Haiyan“ ist viel geschehen, um sich darin einzurichten. Viele halfen, 40 | |
| Millionen Euro kamen allein von der EU. Jetzt gibt es Kataster mit den | |
| Namen Behinderter und alleinstehender Senioren, die abgeholt werden müssen, | |
| wenn der nächste Supertaifun kommt. Es gibt „Train the Trainer“-Seminare in | |
| den Provinzhauptstädten, damit auch das letzte Dorf ein Notfallkomitee | |
| aufbaut. | |
| ## "Resilience“ heißt das Zauberwort | |
| Es gibt Evakuierungspläne und Klassenräume wie die von Benjamin Compaores | |
| und Kurse für Bauern damit sie im Garten Maniok anbauen und Ferkel halten, | |
| um nicht so abhängig von den Palmen und den Fischen zu sein. Fünf Prozent | |
| der öffentlichen Haushalte werden für den Katastrophenschutz | |
| zurückgehalten, jedes Dorf ohne Handyempfang wird von Boten gewarnt. | |
| „Resilience“, Widerstandskraft, statt nur Wiederaufbau ist das Zauberwort. | |
| „Ein Dollar, den wir vor der Katastrophe investieren, spart sieben Dollar, | |
| die wir sonst hinterher ausgeben müssten“, sagt der EU-Botschafter Guy | |
| Ledoux. Und rettet Leben. | |
| Aber wie ergeht es den Überlebenden? | |
| Für die Menschen, die nach „Haiyan“ mit dem Leben davongekommen ließ, gab | |
| es Nagelsets, die EU baute ein Sägewerk, in dem man aus Palmen Bretter für | |
| neue Häuser sägt. Sie kosten nur 200 Dollar, halten jedoch nur Stürme von | |
| vielleicht 200 Stundenkilometern aus. Betonhäuser kosten das Sechsfache. | |
| Das kann sich hier niemand leisten. Sichere Evakuierungsplätze gibt es in | |
| Guiuan erst für einen von sechs Menschen. | |
| Die „neue Normalität“ ist ein jährlich wiederkehrender Ausnahmezustand. | |
| Niemand weiß, ob der nächste Sturm nicht mit 350 Stundenkilometer über | |
| Guiuan fegen wird. Alles, was das Leben von Tootsie Esposito und seinen | |
| Nachbarn schützt, ist gut. Aber nichts wird verhindern, dass vielleicht | |
| schon bald der nächste Taifun die Palmen und Maniokplantagen, die sich | |
| gerade erholt haben, zerstört und die neuen Ferkel im Garten im Salzwasser | |
| ertränkt, während die Menschen in den doppelt vernieteten Klassenzimmern | |
| warten. | |
| ## Kommen bald Betonpilze? | |
| Sind zum Schutz vor den tropischen Stürmen am Ende Bunker nötig, wie die | |
| kleinen Pilze, die der albanische Diktator Enver Hoxha über sein Land | |
| gestreut hat? Ist das der Preis eines Zeitalters der Erderwärmung und | |
| Extremwetter, in dem der Mensch sich in einer feindlichen Umwelt | |
| einrichtet, wie er es auch in den Forschungsstationen am Polarkreis tut? | |
| Und wenn ja: Wer kann das bezahlen? | |
| Tootsie Esposito zeigt den Stumpf einer Kokospalme im grauen Schlamm. „So | |
| hoch stand das Wasser“, sagt er. Wenn das wieder passiert – sein noch nicht | |
| abbezahltes Motorrad wird es so wenig überstehen wie der Fernseher oder die | |
| Möbel. Er wird wieder bei null anfangen. Wie letztes Mal, wie alle hier. | |
| „Wenn die nächste Flut kommt, gehen wir wieder auf den Hügel“, sagt er und | |
| deutet auf einen Hang hinter der Kirche. Der Schutzraum dort wird | |
| ausgebaut, „wir hoffen, dass es bald genug Plätze für alle gibt“. Er müs… | |
| sich daran gewöhnen, dass in Guiuan mit immer neuen Katastrophen zu rechnen | |
| ist. „Es ist schwer, diesen Gedanken zu akzeptieren.“ | |
| Die Reisekosten trug die Generaldirektion für humanitäre Hilfe (ECHO) der | |
| EU-Kommission | |
| 16 Mar 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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