| # taz.de -- Politologin über die Krise der Demokratie: „Linkspopulismus ist … | |
| > Die Politologin Chantal Mouffe über die Agonie der Großen Koalition, den | |
| > neoliberalen Modernisierungskurs der SPD und die Schwierigkeiten eines | |
| > neuen linken Projekts. | |
| Bild: „Es geht darum, einen Diskurs zu konstruieren, der ImmigrantInnen und A… | |
| taz: Frau Mouffe, in Deutschland regiert seit Kurzem eine Große Koalition. | |
| Was bedeutet dies für die politische Streitkultur? | |
| Chantal Mouffe: Ich glaube nicht, dass eine Große Koalition gut für die | |
| Demokratie ist. Aber Koalitionen sind nicht einfach eine arithmetische | |
| Frage. Eine linke Koalition hätte eines politischen Projekts bedurft. | |
| Vielleicht ist im Moment kein linkes Projekt möglich, da das Problem tiefer | |
| sitzt. | |
| Inwiefern? | |
| Wir brauchen Parteien mit unterschiedlichen Programmen und echten | |
| demokratischen Alternativen. Im Moment erleben wir eher eine postpolitische | |
| Situation, die sich in einer Krise der repräsentativen Demokratie | |
| ausdrückt. | |
| Wovon leiten Sie das ab? | |
| Viele Protestbewegungen, die wir in letzter Zeit gesehen haben, gingen von | |
| Menschen aus, die sich nicht mehr repräsentiert fühlen. Ein Slogan der | |
| Indignados in Spanien war: „Wir haben eine Stimme, aber wir haben keine | |
| Wahl.“ Und das ist es, was ich meine. Der Unterschied zwischen Mitte-links | |
| und Mitte-rechts ist wie die Auswahl zwischen Coca-Cola und Pepsi-Cola. | |
| Beschreiben Sie da nicht eigentlich die Krise des politischen Personals? | |
| Ich glaube nicht, dass es allein eine Frage der Macht ist. | |
| Sozialdemokratische Parteien bieten keine Alternativen zur neoliberalen | |
| Hegemonie in ihren Programmen an. Ich sehe derzeit keine | |
| sozialdemokratische Partei, die sich für ein anderes Projekt starkmacht. | |
| Dann ist es egal, welche Parteien regieren? | |
| Natürlich ist es besser in Deutschland, wenn es jetzt einen Mindestlohn | |
| gibt. Tony Blair und Gordon Brown in Großbritannien haben auch ein paar | |
| redistributive Maßnahmen verantwortet, als sie regiert haben. Die Dinge | |
| wurden unter ihnen also ein bisschen besser. Allerdings begnügten sie sich | |
| damit, die neoliberale Globalisierung zu managen und ihr ein bisschen | |
| humaneres Gesicht zu geben. Es ist schwer zu glauben, dass die SPD etwas | |
| fundamental anderes gemacht hätte, wenn sie bei der letzten Wahl als | |
| Siegerin hervorgegangen wäre. Ein radikales Projekt kann sowieso nur auf | |
| gesamteuropäischer Ebene gedacht werden. | |
| Europa wird doch radikal anders gedacht. Allerdings von PolitikerInnen wie | |
| Marine Le Pen und Geert Wilders oder der Alternative für Deutschland. | |
| Hierin sehe ich ein anderes Problem der Sozialdemokratie: Sie | |
| repräsentieren nicht mehr die Arbeiterklasse. In den meisten europäischen | |
| Ländern identifizieren SozialdemokratInnen sich mit der Mittelklasse. Das | |
| ist genau jene Gruppe von Menschen, die von der neoliberalen Globalisierung | |
| profitiert. SozialdemokratInnen wollen heute Modernisierer sein. Sie halten | |
| die traditionelle Arbeiterklasse für archaisch und obsolet. Marine Le Pen | |
| hat Erfolg in Frankreich deshalb, weil sie es versteht, zu solchen Menschen | |
| zu sprechen. Das Problem ist, dass sie mit rassistischen Parolen gegen | |
| muslimische ImmigrantInnen hetzt und die SozialdemokratInnen dort keine | |
| Strategie dagegen haben. RechtspopulistInnen wissen, dass es in der Politik | |
| um Leidenschaften und Affekte geht, mit denen sich Menschen identifizieren | |
| können. | |
| Welche Arbeiterklasse meinen Sie eigentlich? | |
| Es gibt sicherlich kein Proletariat mehr. Aber es gibt ungelernte | |
| ArbeiterInnen, die sich nicht vom Modernisierungskurs der Sozialdemokratie | |
| angesprochen fühlen. Diese Menschen fühlen sich bedroht von der | |
| neoliberalen Globalisierung. Es geht darum, einen Diskurs zu konstruieren, | |
| der ImmigrantInnen und ArbeiterInnen mit einschließt und sich gegen | |
| transnationales Kapital und die Banken richtet. Damit wären wir beim | |
| Linkspopulismus, den ich als Alternative vorschlage. | |
| Das hört sich so an, als ob Sie die Existenz eines Feindes, wie zum | |
| Beispiel das transnationale Kapital, bei Ihren Ausführungen zum | |
| Linkspopulismus voraussetzen. | |
| Natürlich. Um eine kollektive Identität zu konstruieren, muss ein „wir“ v… | |
| einem „sie“ unterscheidbar sein. „Das Volk“ wird immer politisch | |
| konstruiert. Dazu braucht es einen Gegner. Ich glaube aber nicht, dass | |
| soziale Bewegungen wie Occupy oder die Indignados dabei alleine erfolgreich | |
| sein können. Wir müssen anerkennen, dass die Linken heute verschiedene | |
| Anliegen haben. Ich plädiere auch nicht für die Hegemonie einer | |
| reformierten Sozialdemokratie. Ein neues linkes Projekt muss auch | |
| ökologisch sein. Ebenso kann Die Linke in Deutschland eine wichtige Rolle | |
| spielen. Die Synergien all dieser Gruppierungen und Parteien müssen | |
| zusammen an der Bildung des Gemeinwillens wirken. Syriza in Griechenland | |
| ist ein gutes Beispiel hierfür. | |
| Für mich klingt das nach einer rot-rot-grünen Koalition in der Regierung, | |
| die gemeinsame Sache mit einer 68-ähnlichen Bewegung unter einem neuen Rudi | |
| Dutschke macht ? | |
| Ich glaube, dass zum Beispiel die Studentenproteste in Chile zeigen, dass | |
| eine solche Allianz möglich ist. Camila Vallejo ist eine charismatische | |
| Studierendenführerin, die die Kommunistische Partei dort zu einer | |
| Regierungsbeteiligung bewegt hat. Trotzdem hat die dortige KP eigene | |
| Projekte und kritisiert, wo sie es für angemessen hält. | |
| Die Deutschen scheinen das aber nicht zu wollen. SozialdemokratInnen wollen | |
| mit Merkel regieren, die mit großem Vorsprung die Wahl gewonnen hat. | |
| Das ist wahr, denn die Mehrheit der SozialdemokratInnen scheint damit | |
| glücklich zu sein, in eine Große Koalition zu gehen. Aber Angela Merkel | |
| könnte ein Indiz dafür sein, was ich gesagt habe. Erhält Merkel nicht | |
| vielleicht mangels wirklicher Alternative so viel Zuspruch? Die Frage ist | |
| also: Sind Menschen wirklich glücklich oder sind sie nicht einfach ein | |
| bisschen fatalistisch geworden? | |
| 1 Feb 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Jasper Finkeldey | |
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