# taz.de -- Ein verlässlicher Aufreger: Aufmarsch des Pietcong | |
> Wie schreibt man transsexuell? In Baden-Württemberg ist ein Streit um | |
> queere Lehrinhalte in der Schule entbrannt. Das müsste nicht sein. | |
Bild: Die heile Welt der ersten Klasse bekommt schnell Risse, wenn die Schule m… | |
Es nützt nichts, die Gegner der neuen Schulkultur in Baden-Württemberg zu | |
verdammen. Der Fall zeigt, dass die CDU sich und die Gesellschaft viel zu | |
lange vor einer offenen Auseinandersetzung bewahrt hat. Jetzt kommt es auf | |
Ministerpräsident Kretschmann an. Aber längst nicht nur auf ihn. | |
In einer U-Bahn in Stuttgart wurde in diesen Tagen einem offen | |
homosexuellen Lehrer von einem Mitfahrer ein Satz entgegengeschleudert, von | |
dem man sich gewünscht hatte, dass Menschen ihn sieben Jahrzehnte nach der | |
Schließung von Auschwitz nicht mehr benutzen: „Ihr gehört doch alle ins | |
Gas.“ Das ist unerträglich. Aber es ist nicht das entscheidende Problem. | |
Das liegt woanders. Was hat den Mann in der U-Bahn um den Verstand | |
gebracht, so er jemals einen hatte? | |
Laut einem Entwurf des SPD-Kultusministers Andreas Stoch für einen | |
grün-roten Bildungsplan sollen Baden-Württembergs Schüler ab 2015 nach fünf | |
Leitprinzipien unterrichtet werden und fächerübergreifend „die Akzeptanz | |
sexueller Vielfalt“ lernen. Also, dass neben heterosexuell auch lesbisch, | |
schwul, bisexuell, transsexuell, transgender, intersexuell und queer okay | |
ist. Gegen diese offizielle Erweiterung der Akzeptanz von | |
Lebenswirklichkeiten über die Mann-Frau-Kinder-Konstellation hinaus gibt es | |
Widerstand, der sichtbar wurde durch eine Onlinepetition des Nagolder | |
Realschullehrers Gabriel Stängle. | |
Es wäre naiv, die Instrumentalisierung des Themas zu beklagen oder zu | |
übersehen, dass, wo es Fortschrittsgewinner gibt, es auch Verlierer gibt, | |
die sich entsprechend wehren, weil ihnen im Zweifel bedrohte | |
Eigeninteressen vor gesamtgesellschaftlichen Gewinn gehen. Das gilt auch | |
für die Kirchen, wir sind ja alle nur Menschen. Doch die gegen den | |
Machtverlust kämpfenden Landeskirchen, die Super-Evangelen im pietistischen | |
Gürtel um Stuttgart herum und die praktizierenden Katholiken aus dem | |
Hinterland sind das eine. | |
Das andere ist die ehemalige Staatspartei CDU Baden-Württemberg, die sich | |
und die Gesellschaft viel zu lange vor der Diskussion dieses Themas bewahrt | |
hat. Dadurch hat sie Teile dieser Gesellschaft von einer | |
kulturell-habituellen Entwicklung entkoppelt, die politisch | |
vorangeschritten ist. Aber eben ohne dass darüber groß gesprochen wurde. | |
Es brauchte die historische Abwahl der CDU und Winfried Kretschmann, um die | |
Diskussion nun nachzuholen. Solange „schwule Sau“ zu den beliebtesten | |
Schimpfwörtern auf den Schulhöfen gehöre, sagt der grüne Ministerpräsident, | |
bestehe Handlungsbedarf. | |
Der Entwurf selbst ist nun eher harmlos und gibt – wie so oft – den | |
Empörungskern überhaupt nicht her, die angebliche Umerziehung von Kindern. | |
Die steckt als Projektion in den Köpfen der Besorgten. Aber die andere | |
Frage stellt sich eben auch: Ob die Gegenempörung aus dem grün-linken | |
Milieu nicht auch überzogen ist, nach der wir es mit unverbesserlichen | |
Homophoben aus dem Hinterwald zu tun haben, die einfach nicht einsehen, | |
dass wir es besser wissen. | |
Selbst wenn die in dieser Hinsicht progressiven Milieus richtig liegen: es | |
nützt nichts. Die Diskussion in Baden-Württemberg muss erst noch geführt | |
werden. Gerade von den regierenden Grünen. Eine Politik des Gehörtwerdens | |
darf sich nicht nur auf das beziehen, was einem in dem Kram passt. | |
## | |
Letztlich geht es aber nicht darum, den sogenannten Pietcong argumentativ | |
zu gewinnen; die Pietisten sind zwar einflussreich, aber sie markieren das | |
Ende eines Spektrums. Es geht auch nicht (darum), die Kultur der Grünen | |
oder der Roten durchzusetzen. Es geht darum, die baden-württembergischen | |
Gesellschaft weiterzubringen, dass die Mehrheit in der pragmatischen Mitte | |
sich aktiv verhält und im schönsten Fall die unterschiedlichen Identitäten | |
von Menschen akzeptiert und nicht manche abwertet, schon gar nicht durch | |
Reduzierung auf sexuelle Orientierung. | |
Es geht also um all jene, die nichts gegen homosexuelle Lehrer haben, aber | |
bisher auch nichts dagegen, dass darüber nicht gesprochen wird. Und sich | |
insgeheim sorgen, wie das wäre, wenn ein offen schwuler Lehrer den eigenen | |
Sohn in den Arm nähme. Wenn sich in dieser müden Gesellschaft etwas | |
entzündet, dann in der Regel im Zusammenhang mit Kindern – das wahre letzte | |
Aufregerthema einer verhältnismäßig liberalen Gesellschaft. | |
Es geht darum, dass sich jetzt die Leute offen positionieren, die das | |
bisher nicht für nötig hielten, dass auch große Teile der angeblich so | |
rückständigen CDU-Wähler zur „Akzeptanz“ von nichtheterosexuellen | |
Lebensstilen stehen, die selbstverständlich ja auch CDU-Politiker leben. | |
Die Partei ist sich in der Frage Akzeptanz („Ich finde das andere okay“) | |
oder Toleranz („Ich finde das andere scheiße, aber halte es aus“) aber | |
offenbar noch nicht einig. Viele wissen aber, dass die Landes-CDU mit einer | |
Fokussierung auf Familie unter Propagierung alltagsferner Werte nicht | |
weiterkommt, wenn ein Gehalt nicht ausreicht und die Großstädte voller | |
Singles sind. | |
## „Ideologisierter Lehrplan“ | |
Dass man strategisch mit der Instrumentalisierung des Themas den | |
übermächtigen Kretschmann nicht herabziehen kann, scheint den meisten | |
Führungskräften auch klar zu sein; mal abgesehen vom Fraktionsvorsitzenden | |
Peter Hauk, der „moralische Umerziehung“, „ideologisierten Lehrplan“ und | |
„Bevormundung“ beklagt, also die Sorge formuliert, die Teile der | |
Konservativen haben, aber eben auch Vorurteile gegen Andersdenkende in | |
politische Rendite umwandeln will. Ob ihn das der | |
Ministerpräsidentenkandidatur näher bringt? | |
Anders als in Baden-Württemberg ist die Akzeptanz sexueller Vielfalt in | |
Berlin längst in den Lehrplänen. Man kann nicht behaupten, dass es eine | |
breite Diskussion darüber gab. Das ist aber nicht die gute, das ist die | |
schlechte Nachricht. | |
Ein Berliner Gymnasiallehrer sagte nach seiner Vorstellung an der neuen | |
Schule, ob es denn noch Fragen gebe. Ja, sagten die Gymnasiasten, zu 90 | |
Prozent Einwanderer mit tief verwurzelten Familienstrukturen: „Wie alt sind | |
Sie? Sind Sie verheiratet? Haben Sie Kinder?“ | |
„Ich bin soundsoalt und unverheiratet,“ sagte der neue Lehrer, „und lebe | |
mit meinem Freund zusammen.“ Zwei Sekunden Stille. Dann hatten sie es | |
geschnallt. Und das war es dann im Großen und Ganzen. | |
Das ist nicht zu schön, um wahr zu sein. Nur viel zu selten. | |
Es gibt längst nicht an jeder Berliner Schule einen offen homosexuellen | |
Lehrer. Nun ist das Verständnis sehr unterschiedlich, was „Outing“ genau | |
meint. Aber nach Schätzungen eines Experten dürfte selbst in Berlin nur | |
jeder zehnte homosexuelle Lehrer so offen damit umgehen wie in dem | |
beschriebenen Fall. | |
## Die AV 27 in Berlin | |
Eine Studie von 2012 zur Situation an Berliner Schulen kommt zu folgenden | |
Ergebnissen: Je mehr über die Thematisierung sexueller Vielfalt gesprochen | |
wird, desto besser wissen die Schüler Bescheid. Desto unvoreingenommener | |
und solidarischer sind sie. Desto größer wird ihre Möglichkeit, zur eigenen | |
sexuellen Identität zu stehen. Je klarer die Schule gegen Diskriminierung | |
und Mobbing vorgeht, desto weniger wird diskriminiert. Offen | |
nichtheterosexuelle Lehrer oder Mitschüler wirken sich positiv auf die | |
Akzeptanz aus – wenn das Gesamtklima der Schule stimmt. Eine offizielle | |
Legitimation durch den Lehrplan ist wichtig, da sie die aktiv werdenden | |
Lehrer stützt. | |
Die AV 27, die Richtlinie Akzeptanz sexueller Vielfalt, wird aber nicht mal | |
von der Hälfte der Lehrer umgesetzt. Viele kennen sie gar nicht, kaum ein | |
Lehrer besucht entsprechende Fortbildungen. Elternvertreter wissen | |
überhaupt nicht, dass die Akzeptanz sexueller Vielfalt zum Curriculum | |
gehört. Es fehlt also selbst in der deutschen Weltstadt an offen | |
homosexuellen Lehrern, an aktiv werdenden Hetero-Lehrern, an Eltern, die | |
darauf drängen, es fehlt an einer intensiven Auseinandersetzung mit der | |
Realität. | |
Das Problem sind also nicht stumpfe Fußballprolls und nicht religiöse | |
Fanatiker. Das Problem ist nicht der Nazi in der Stuttgarter U-Bahn. Das | |
Problem ist, dass es praktisch keine offen homosexuellen Lehrer in | |
Baden-Württemberg gibt. Weil das zu viele Leute ignorieren, die sich selbst | |
für wahnsinnig aufgeklärt und liberal halten. | |
Wenn man es für einen Skandal hält, dass in der Schule nicht die Vielfalt | |
von Lebenswirklichkeiten gelehrt wird, wenn man es als zivilisatorisches | |
Armutszeugnis betrachtet für ein wirtschaftlich und kulturell reiches Land | |
wie Baden-Württemberg, dann darf man die Gegner und Zweifelnden nicht aus | |
dem Off beschimpfen, sondern muss aktiv seinen Teil beitragen, so dass sich | |
das ändern kann. | |
Wie in vielen zukunftsentscheidenden Fragen geht es nicht um Widerstand und | |
Subversion, sondern um Integration und gelebte Affirmation, um die | |
Sichtbarkeit des Neuen zu befördern und zu stützen. Ganz konkret: Wer sich | |
um Leben und Wohl seines eigenen Kindes sorgt, der sollte sich rechtzeitig | |
darum kümmern, dass es in der Schule auch wertgeschätzt wird, wenn es wider | |
Erwarten nicht heterosexuell sein sollte. | |
So gesehen hat der Nagolder Petitionsurheber Stängle einen wichtigen | |
Beitrag geleistet, denn er hat das Thema und die teilgesellschaftlichen | |
Vorbehalte gegen Akzeptanz nichtheterosexueller Lebenswirklichkeiten als | |
Teil des Werteportfolios, mit dem unsere Kinder aufwachsen sollen, auf die | |
Agenda gebracht. In Baden-Württemberg und darüber hinaus. Das zu nutzen, | |
ist eine große Chance und eine Verpflichtung. Speziell, aber längst nicht | |
nur für Ministerpräsident Kretschmann. | |
5 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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