# taz.de -- Pietisten-WG in Stuttgart: Vom Ohr und Kopf ins Herz | |
> Morgengebet am WG-Tisch: Der als rückständig und homophob verschriene | |
> Pietismus findet seine Anhänger – auch unter jungen Leuten. | |
Bild: Besonders worttreu: die pietistische Auslegung der Bibel. | |
STUTTGART taz | 6.30 Uhr. Draußen erwacht Stuttgart. Nahe dem Zentrum, | |
Furtbachstraße, steigen die Mädchen hinauf ins Dachgeschoss, wo die Jungs | |
wohnen. Sie sitzen um die große ovale Tafel mit den shabby-schicken Stühlen | |
vom Sperrmüll. Hier beginnen sie den Tag mit ihrem wichtigsten Begleiter, | |
der keinen Stuhl braucht und doch mit am Tisch sitzt, würden sie hier | |
sagen. Die Gruppe liest die Tageslosung. Legt sie aus, spricht darüber und | |
betet. Auch dafür, dass Annettes verstauchter Zeh bis zur Fußballfreizeit | |
wenige Tage später geheilt ist. Dann gehen sie los, studieren oder | |
arbeiten. | |
Insgesamt 25 junge Leute wohnen in Stuttgart in den WGs der Apis, der | |
Altpietisten. Der evangelische Gemeinschaftsverband Die Apis unterhält die | |
Häuser, will wenig Miete und verlangt dafür Einsatz im Gemeinschaftsleben, | |
in der Api-Jugendarbeit etwa. Wer hier lebt, liest die Bibel, lebt nach | |
ihren Regeln und tut Gutes für andere. | |
Der Pietismus ist seit dem 18. Jahrhundert tief verwurzelt in der | |
evangelischen Kirche von Baden-Württemberg. „Viele Leute fragen sich: Ist | |
Pietismus ein Schimpfwort?“, sagt Steffen Kern, Pfarrer und Vorsitzender | |
der Altpietisten. Aufgrund ihrer bibeltreuen Haltung gelten Pietisten heute | |
als borniert in Glaubensdingen, konservativ, rückständig. Gleichzeitig wird | |
der Pietismus für den wirtschaftlichen Erfolg Baden-Württembergs | |
verantwortlich gemacht, weil er Fleiß als Tugend predigt. | |
Steffen Kern sagt: „Wir Altpietisten stehen mit beiden Beinen im Leben. Wir | |
sind Leute, die nicht nur die Bibel, sondern auch die Zeitung lesen.“ | |
Bibeltreue Pragmatiker, will er damit sagen, keine Spinner. | |
## Christozentrisches Leben | |
Annette Rachinger (23) wohnt in der Api-WG. Sie hat lange blonde Haare, | |
zusammengebunden. Sie rollt das R und strahlt mit den Augen. Bei den Apis | |
strickt sie weiter zielstrebig an ihrer Berufskarriere. Sie hat sich in | |
einem Sozialpraktikum in Karlsruhe mit Opfern von Menschenhandel | |
beschäftigt, sie hat Ungarisch gelernt. Jetzt baut sie mit den Apis ein | |
Frauenhilfehaus im Stuttgarter Rotlichtviertel auf. Annette spricht nicht | |
von Karriere. „Das war von ihm persönlich so eingefädelt“, sagt Annette. | |
Sie spricht von Gott. | |
Annette ist bereit, über ihren Glauben zu erzählen. Auch Thomas (25), groß | |
bis zum Türrahmen, schwarze, dickrandige Brille, Frisur dunkelblond | |
ungestylt, will den Pietismus erklären. Sie sitzen am Küchentisch in | |
Annettes WG. „Was ich von meinen Eltern mitbekommen habe, ist Pietismus: | |
Eine Betonung auf der Beziehung zu Jesus und Gott, mit ihm durch den Alltag | |
zu gehen, und dass die Bibel eine Autorität für mich ist“, sagt Thomas. Er | |
wohnt seit zweieinhalb Jahren in der WG. Er sagt: „Gott ist die Konstante | |
in meinem Leben.“ | |
Annette ist erst vor drei Monaten dazugekommen. Sie habe sich bewusst | |
entschieden, ihr egozentrisches gegen ein christozentrisches Leben zu | |
tauschen. Seitdem habe sie mehr Liebe zu geben. Pietismus heißt für sie: | |
„Fromm sein. Mit Jesus unterwegs sein.“ Der Alltag der beiden ist von den | |
Apis bestimmt. Beide studieren Soziale Arbeit an der Dualen Hochschule | |
Stuttgart, die Apis sind ihr Ausbildungspartner, das heißt sie arbeiten | |
phasenweise Vollzeit für den Verband: Aufbau des Frauenhauses, Betreuung | |
von Flüchtlingen, Spielmobil für Kinder, Beschäftigung für benachteiligte | |
Jugendliche. | |
Der Glaube müsse vom Ohr und Kopf ins Herz, und in die Hand. Api sein heißt | |
handeln, sagen sie. Auch nach Feierabend erfüllen sie ihren Api-Auftrag. | |
Annette bringt einem 15-jährigen Mädchen, das sie in der Jugendarbeit | |
kennengelernt hat, Gitarre bei. Thomas kümmert sich um einen Mitbewohner, | |
dem es psychisch nicht gut geht. Dienstags ist Bibelkreis. | |
Sonntagnachmittags Api-Gottesdienst im holzvertäfelten Saal des Hauses mit | |
anschließendem gemeinsamem Essen. | |
## Rumknutschen im Club? | |
Alte Württemberger erinnern sich noch an die Stundenbrüder: pietistische | |
Bauern, die egal wie gut das Wetter für Arbeiten auf dem Feld war, um 16 | |
Uhr am Nachmittag alles fallen ließen, um im Anzug in „die Stund“ zu gehen. | |
Im 18. Jahrhundert hat die Landeskirche in Württemberg den Pietisten | |
erlaubt, ihre Auslegung des evangelischen Glaubens frei zu leben. Einmal am | |
Tag durfte ein einstündiges Treffen stattfinden, an dem maximal 15 Personen | |
teilnehmen. So entstand die tägliche Bibelstunde. Anderswo wurde der | |
Pietismus als Sekte betrachtet. | |
Dessen Geschichte beginnt 1675, als der Theologe Philip Jakob Spehner die | |
Schrift „Pia desideria (fromme Wünsche) oder Herzliches Verlangen nach | |
gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche“ veröffentlicht. | |
Er forderte mehr Spiritualität, damit die biblische Botschaft bei den | |
Menschen ankommt. Außerdem störte ihn, dass die Christen zu wenig über die | |
Bibel wüssten. Er hat Bibelkreise in seinem Pfarrhaus abgehalten, | |
sogenannte Collegia Pietatis (Treffen der Frömmigkeit). Hauskreise sind bis | |
heute typisch für den Pietismus. Wie viele Gläubige in Baden-Württemberg | |
dem Pietismus zuzuordnen sind, ist nicht erfasst. In der Landessynode | |
Württemberg erreicht die pietistische Fraktion Lebendige Gemeinde | |
regelmäßig über 40 Prozent. | |
Annette hat ihren Glauben immer dabei. Auch wenn sie nachts in Stuttgart | |
tanzen geht. Letztens hat sie einen Typen kennengelernt. Er war toll, | |
anziehend. Gedankenblitze: Rumknutschen, ihn abschleppen? Aber Annette | |
sagt: „Das würde mir nicht gut tun.“ In der Gemeinschaft der Apis haben | |
viele keinen Sex vor der Ehe. Wenn sich Annette das in Erinnerung ruft, | |
verschwinden die Gedankenblitze wieder. | |
Thomas sagt es so: „Entweder ich kann mir jetzt gleich einen Cheesburger | |
holen oder in einem Jahr ein Dreigängemenü im besten Restaurant der Stadt | |
genießen.“ Die konservative Sexualmoral der Pietisten hat es im vergangenen | |
Jahr durch die Proteste gegen den Bildungsplan mit Betonung auf „Akzeptanz | |
sexueller Vielfalt“ zu großer Bekanntheit gebracht. Seither geht eine | |
breite Allianz von Kirchenvertretern, auch Pietisten, und | |
rechtskonservativen Politikern immer wieder gegen den Bildungsplan auf die | |
Straße. Thomas war mal dort. Er sagt: „Ich wollt’s mal anschauen.“ Die | |
Aggression der Gegendemonstranten habe ihn überrascht. Er sei ein Mensch, | |
dem Parolen und Schwarz-Weiß-Malerei nicht gefielen, sagt er. | |
## Homos als Sünder | |
Mal angenommen, ein schwuler Mann, eine lesbische Frau wollte in die Api-WG | |
einziehen, was hieße das für ihn? „Die sexuelle Prägung wäre eine | |
Nebensache für mich“, sagt Thomas erst mal. Allerdings wollte er die Frage | |
des Einzugs „anhand der Bibel prüfen und dann individuell entscheiden“. | |
Annette sagt: „Es gibt wenige Stellen, die über Homosexualität sprechen. | |
Die, die es gibt, sprechen eher dagegen.“ | |
Mit am Tisch in der WG sitzt auch Stefan Kuhn (36), Leiter der | |
Api-Jugendarbeit und Vater von vier Kindern. „In der Bibel ist es nicht | |
beantwortet, ob die homosexuelle Neigung Sünde ist.“ Aber selbst wenn es | |
Sünde wäre: Jesus sei eigentlich gerade auf die Leute zugegangen, die als | |
Sünder gesehen wurden. „Mit den Frommen ging er viel schärfer um.“ Dann | |
erzählt Kuhn: Er habe erlebt, dass ein Mann, der homosexuell empfunden und | |
unter diesen Gefühlen gelitten habe, diese Empfindungen habe ablegen | |
können. Er führe jetzt ein heterosexuelles Leben. „Das ist möglich“, sagt | |
Kuhn. | |
Der Api-Gemeinschaftsverband unterstützt beim Umgang mit Homosexualität den | |
Kurs der Evangelischen Landeskirche: keine Segnung für homosexuelle Paare, | |
die der Ehe vergleichbar ist. „Die Frau-Mann-Beziehung ist im | |
biblisch-theologischen Sinn etwas Besonderes“, sagt Api-Vorsitzender | |
Steffen Kern. Homosexuelle Menschen dürften aber nicht diskriminiert | |
werden. | |
In einer Verbandszeitschrift schrieb Kern 2011 allerdings von der | |
„Herausforderung, dass homosexuell empfindende Christen bei uns eine Heimat | |
finden und offen und herzlich aufgenommen werden. Wir sind eine | |
Gemeinschaft von Menschen, die davon leben, dass Christus uns vergibt.“ | |
Kern lässt in der Zeitschrift die Frage, was Gottes Willen in Bezug auf | |
Homosexualität ist, unter anderem von Stefan Schmidt vom Institut | |
Wüstenstrom beantworten, das Homosexualität nicht als „Schöpfungsvariante�… | |
akzeptiert. Die Bitte um Vergebung für Sünder und die Verweise auf die | |
Bibel, das ist alles andere als ein Beitrag zur Akzeptanz von | |
Homosexualität. Es ist vielmehr die verklausulierte Ablehnung. | |
## Zirkel der Frömmigkeit | |
Auch Annette und Thomas aus der Api-WG tendieren zur konservativen, | |
bibeltreuen Auslegung, wo Homosexualität negativ belegt ist und Sex vor der | |
Ehe ein Tabu ist. Aber sie wollen genau dieses Leben führen, das bei den | |
Apis als erstrebenswert gilt. Thomas zitiert sinngemäß einen Petrus-Vers: | |
„Es ist alles erlaubt, solange es dir gut tut.“ Und sie glauben beide, dass | |
ihnen eine Sache, die Gott nicht gefällt, gar nicht gut tun kann. Es ist | |
ein Zirkel der selbst auferlegten Frömmigkeit, in dem sich die beiden | |
bewegen. Thomas hat es lange Zeit nicht geschafft, um 6.30 Uhr zur Andacht | |
zu kommen. „Darüber bin ich sehr mit mir selbst in Konflikt geraten“, sagt | |
er. | |
Er hat sich inzwischen die Freiheit genommen, seine „stille Zeit“ anders zu | |
verbringen. Abends steigt er auf sein Motorrad, fährt aus der Stadt ins | |
Grüne. Er kommt vom Dorf und mag es, wenn es ruhiger um ihn ist als im | |
Stuttgarter Talkessel. Er geht spazieren im Wald, erzählt Gott, was | |
Interessantes passiert ist, was ihn bewegt, berichtet ihm von seinen | |
Bewerbungen. Nach etwa zwei Stunden kommt er zurück in die Stadt. „Das war | |
für mich dann eine schöne Zeit. Ich hab sie mit meinem Herrn verbracht.“ | |
3 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Lena Müssigmann | |
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